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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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auch die Laborergebnisse bis zum Beginn der Tagschicht verschwunden waren. Danach besorgte – und las – Jeremy ein Regal voll medizinischer Fachliteratur. Vor ein paar Jahren habe ich den Fehler gemacht, ihm den St. John Ambulance Official Wilderness First Aid Guide zu schenken. Das Buch gefiel ihm so gut, dass er mich anwies, ein Exemplar für jeden von uns anzuschaffen, damit wir es im Handschuhfach aufbewahren und im Notfall unsere eigenen Gliedmaßen amputieren konnten. Sie können mich jetzt einen Schwächling nennen, aber sollte ich jemals einen Arm oder ein Bein verlieren, und es ist keine Hilfe da, dann bin ich erledigt, und wenn das Handbuch noch so wundervolle (und durch klare und hilfreiche Illustrationen ergänzte) Anleitungen dafür enthält, wie man die Verletzung mit Hilfe eines Stocks und eines Plastikmüllbeutels abbinden kann.
    ***
    »Das Bein zuerst?«, erkundigte ich mich bei Jeremy, während er seinen Kasten mit Verbandszeug aus dem Badezimmerschrank holte.
    »Den Arm. Ich richte den Knochen. Du schienst.«
    Das klang gar nicht so übel. Jeremy setzte sich auf den Toilettendeckel, und ich ging neben ihm in die Hocke, um arbeiten zu können. Es war ein glatter, geschlossener Bruch, der keine unerfreulichen Tätigkeiten wie das Zurückschieben von Knochen unter die Haut und dergleichen erforderte. Der Arm war knapp über dem Handgelenk gebrochen. Als Jeremy ihn ausgerichtet hatte, legte ich eine gepolsterte Schiene unter seinen Arm. Dann holte ich die Verbandsrolle heraus. Nach Jeremys Anweisungen wickelte ich den Verband erst unter dem Ellenbogen und dann über dem Handgelenk um seinen Arm, und danach fabrizierte ich eine Schlinge, die den Arm in seiner Position hielt. Es dauerte eine Weile, war aber verhältnismäßig einfach … jedenfalls verglichen mit dem, was er als Nächstes von mir verlangte.
    »Du wirst mein Bein nähen müssen«, sagte er.
    »Nähen…?«
    »Ich kann's nicht mit einer Hand.« Er stand auf, lehnte sich an die Kommode und öffnete mit der brauchbaren Hand seine Jeans; dann versuchte er sie auszuziehen. »Und hier könnte ich auch ein bisschen Hilfe brauchen, wenn es nicht zu viel verlangt ist.«
    »Jederzeit«, antwortete ich. »Männer ausziehen, das kann ich gut. Leute zusammennähen, da habe ich meine Zweifel. Vielleicht ist der Schnitt ja gar nicht so schlimm.«
    Ich wickelte die blutgetränkten Streifen von Antonios Hemd von Jeremys Oberschenkel ab. Haut und Muskel teilten sich wie das Rote Meer – übrigens eine sehr treffende Analogie angesichts des Schwalls von Blut, der herausquoll. Ich hatte kein Problem damit, Jeremy ohne Hosen zu sehen, aber diese Art von Innenleben wollte ich von niemandem präsentiert bekommen.
    »Nimm den Waschlappen«, sagte er, während er sich schnell wieder hinsetzte und ein Handtuch auf die klaffende Wunde drückte.
    Ich hielt den Stoff unters Wasser, säuberte die Wunde und trug Desinfektionsmittel auf. Ich arbeitete nicht so schnell, wie ich es hätte tun sollen, und als ich fertig war, strömte mir das Blut über die Finger.
    »Jetzt nimm das Pflaster«, sagte Jeremy. »Nein, nicht das da. Das andere – genau.«
    Mit Hilfe des Pflasters und einiger gekonnter Manöver brachten wir die Blutung zum Erliegen, bevor Jeremy ohnmächtig wurde. Als Nächstes holte er etwas aus seinem Verbandskasten, das einer Nähnadel mit Faden bemerkenswert ähnlich sah, und gab es mir. »Hör auf zu zicken, Elena, ich beiße nicht. Nimm die Nadel und fang an. Denk nicht nach. Versuch einfach eine einigermaßen gerade Naht zu machen.«
    »Klingt einfach, aber hast du jemals meine Handarbeitsprodukte aus der Schule gesehen?«
    »Nein, aber ich hatte das Privileg, deine Haarschnitte mitzuerleben. Wie gesagt, versuch eine halbwegs gerade Linie zu Stande zu bringen.«
    »Ich schneide dein Haar immer gerade.«
    »Wenn ich den Kopf in einem ganz bestimmten Winkel halte, ist es vollkommen gerade.«
    »Pass auf. Ich habe eine Nadel.«
    »Und wenn ich dich lang genug ärgere, setzt du sie irgendwann vielleicht sogar ein und machst dich ans Werk, bevor ich verblute.«
    Okay, ich verstand die Andeutung. Ganz gleich, was Jeremy sagte, es war nicht, als nähte man Stoff, und ich konnte auch nicht tun, als sei es so. Stoff blutet nicht. Ich versuchte nach Kräften, gute Arbeit abzuliefern – schließlich wusste ich genau, dass ich sonst den Rest meiner Tage mit den dummen Witzen über Jeremys krumme Narbe würde leben müssen. Ich war fast fertig, als die Wut

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