Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
Vom Netzwerk:
blieben alle nicht – es waren Pendler, die vor der Tür hielten, um sich auf dem Weg ins Büro einen doppelten Espresso und ein paar Kekse mitzunehmen. Niemand hatte Zeit, sich hinzusetzen. Wir hatten die Terrasse für uns, und die Angestellten ließen uns in Frieden, selbst als wir nach über einer Stunde immer noch dort saßen. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück, die Augen geschlossen, die Finger um den warmen Kaffeebecher gelegt, und hörte mir Clays Kommentare zu den vorbeihastenden Leuten und dem Morgenverkehr an.
    »Du siehst glücklich aus«, sagte er plötzlich.
    »Bin ich auch«, sagte ich, ohne die Augen zu öffnen. Ich legte den Kopf in den Nacken und spürte die Sonnenwärme auf dem Gesicht. »Weißt du, ich kann mir gar nicht vorstellen, jemals irgendwo zu leben, wo es keine Jahreszeiten gibt.«
    »Bitte?«
    »Richtige Jahreszeiten, meine ich. Ich würde die Veränderungen vermissen, die Abwechslung. Vor allem den Frühling. Ich könnte ohne den Frühling nicht leben. Tage wie heute sind jeden Schneesturm und jede Matschpfütze wert. Im März hat man immer das Gefühl, dass der Winter nie zu Ende geht. Der ganze Schnee und das Eis sind einem im Dezember noch phantastisch vorgekommen, aber inzwischen machen sie einen rasend. Aber man weiß, dass der Frühling kommt. Jedes Jahr wartet man auf diesen einen, ersten warmen Tag, und dann auf den nächsten und übernächsten, und jeder ist besser als der vorherige. Man kann gar nicht anders, als glücklich zu sein. Man vergisst den Winter und bekommt die Chance, neu anzufangen. Ganz neue Möglichkeiten.«
    »Neu anfangen«, wiederholte Clay.
    »Genau.«
    Clay zögerte und beugte sich vor, als wolle er etwas sagen. Aber dann hielt er inne, lehnte sich wieder zurück und schwieg.
    Es war nach neun, als wir in die Wohnung zurückkehrten. Ich würde zu spät zur Arbeit kommen, war aber in viel zu guter Stimmung, um mir etwas daraus zu machen. Ich konnte ja die Mittagspause durcharbeiten oder abends länger bleiben. Kein Problem.
    Als wir im Aufzug standen, erzählte Clay mir gerade, wie eine Bande von Straßenkids versucht hatte, bei einer Fahrt nach New York City im letzten Winter sein Auto zu stehlen. Als wir die Wohnungstür erreicht hatten, lachte ich so sehr, dass ich beinahe ins Innere gefallen wäre, als wir aufsperrten.
    »Nicht im Ernst?«, fragte ich, während ich die Tür hinter mir schloss.
    Clay antwortete nicht. Als ich ihm ins Gesicht sah, lachte er nicht mehr. Er sah mich nicht einmal an. Sein Blick ging über meine Schulter hinweg. Ich drehte mich um und sah Philip im Sessel sitzen, die Arme verschränkt – er sah aus wie ein Vater, der die ganze Nacht aufgeblieben ist, um auf ein streunendes Kind zu warten. Ich öffnete den Mund, aber es kamen keine Worte. In meinem Hirn jagten sich die Überlegungen – wie lange er schon zurück war, welche Entschuldigung jetzt angebracht war. War er im Lauf des Morgens zurückgekommen? Dann könnte ich sagen, dass wir zum Frühstück ausgegangen waren. Als wir weiter ins Zimmer traten, stand Philip auf.
    »Ich würde gern mit Elena sprechen«, sagte er.
    Clay ging in Richtung Bad. Philip vertrat ihm den Weg. Clay blieb stehen; seine Schultern strafften sich. Er begann den Blick auf Philip zu richten, überlegte es sich dann anders und sah durch ihn hindurch. Er versuchte um ihn herumzugehen, als sehe er nicht, dass jemand dort stand.
    »Ich habe gesagt, ich möchte mit Elena sprechen«, sagte Philip. »Ich möchte, dass du so lange gehst.«
    Clay drehte sich um und ging auf das Sofa zu. Wieder stellte Philip sich ihm in den Weg, und wieder erstarrte Clay. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und öffneten sich wieder. Philip forderte ihn heraus, und es kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung, es zu ignorieren. Ich wollte schon eingreifen, als Clay sich umdrehte und mich ansah.
    »Bitte«, sagte ich.
    Er nickte und ging mit einem gemurmelten »Ich bin unten« an mir vorbei zur Wohnungstür. Als die Tür wieder zugefallen war, wandte ich mich an Philip.
    »Wann bist du denn zurückgekommen?«, fragte ich.
    »Ich war gar nicht weg.«
    »Dann warst du –«
    »Ich war die ganze Nacht hier.«
    Ich spielte auf Zeit, während ich versuchte, mir eine Entschuldigung einfallen zu lassen. »Die haben das Treffen abgesagt?«
    »Es hat nie ein Treffen gegeben.«
    Ich sah rasch auf.
    »Ja, ich habe dich angelogen, Elena«, sagte er. »Ich musste mir selbst beweisen, dass meine Vermutungen falsch waren.«
    »Du

Weitere Kostenlose Bücher