Die Nacht der Wölfin
bin ich der einzige Mensch auf der Welt, der mit dreißig Jahren noch über schwefelbeschichteten Stöcken ausflippt, aber das ist mir egal. Jedenfalls war es mir egal, solange Clay dabei war. Er wusste nicht, dass Erwachsene in aller Regel nicht mit Wunderkerzen spielen, und ich dachte nicht daran, ihn aufzuklären. In einer der wenigen Erinnerungen an meine Eltern, die ich bewahrt hatte, kam eine Party am Canada Day vor. Ich wusste nur deshalb, dass es Canada Day gewesen war, weil ich vor meinem inneren Auge noch einen Kuchen in Form der kanadischen Flagge sah. Ich sah Feuerwerk – jede Menge Feuerwerk. Ich hörte Musik und Gelächter. Ich roch Schwefel und alte Decken. Ich erinnere mich, wie mein Vater mir eine Wunderkerze gab, meine erste Wunderkerze. Ich weiß noch, dass meine Mutter und ich barfuß im nassen Gras tanzten und die Wunderkerzen dabei schwenkten wie Zauberstäbe, dass wir kicherten und uns drehten und die Spur von magischem Licht beobachteten, die wir hinter uns herzogen.
Clay zog einen Streichholzbrief aus der Jackentasche und zündete die erste Wunderkerze an. Ich stand hastig auf und nahm sie ihm ab. Orangefarbene Funken schossen hervor wie ein Stern – ein zischender, ungleichmäßig sprühender Stern. Ich hob die Kerze hoch und zeichnete versuchsweise eine Linie in die Luft. Zu langsam. Ich wiederholte die Bewegung schneller, und das Bild blieb ein paar Sekunden lang bestehen, eine Linie aus Feuer in der Dunkelheit. Ich schwenkte die Wunderkerze im Kreis und verfolgte, wie die Funken wirbelten und stoben. Ich schrieb meinen Namen in den Himmel, aber das erste E verblasste, bevor ich mit dem A fertig war. Ich versuchte es noch einmal und schneller. Diesmal hing mein Name einen Lidschlag lang in der Luft.
»Fast runtergebrannt«, rief Clay. »Wirf sie und wünsch dir was.«
»Das macht man bei Geburtstagskerzen«, sagte ich. »Nur dass man sie ausbläst und nicht wirft.«
»Du hast sie aber mal geworfen. Mitsamt dem Kuchen.«
»Ich hab sie nach dir geworfen. Und der einzige Wunsch, den ich dabei hatte, ist nicht wiederholbar.«
Clay lachte. »Na, aber die Wunderkerzen wirft man immer, also kannst du dir genauso gut was dabei wünschen. Ein neuer Werwolfaberglaube.«
Als ich den Arm hob, ging die Wunderkerze aus. Clay zündete die zweite an und gab sie mir. Ich hob sie über den Kopf und zeichnete eine Acht, dann senkte ich den Arm wieder und wirbelte um meine eigene Achse, so schnell, dass ich fast über Clay gestolpert wäre. Er lachte und legte eine Hand an meine Wade, um mich abzustützen. Auch als ich mich wieder gefangen hatte, nahm er sie nicht fort. Ich sah auf ihn hinunter, als er da vor meinen Füßen auf dem Rücken lag.
»Ich liebe dich«, sagte er.
Ich zwinkerte verblüfft und erstarrte.
»Falsches Timing?«, fragte er mit einem kleinen Lächeln. Er nahm die Hand von meinem Bein. »Besser?«
»Ich –«, begann ich und brach dann ab. Ich wusste nicht, was ich hatte sagen wollen, wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Ich versuche dich nicht zu verführen, Elena. Das Rennen, die Wunderkerzen – das ist nicht als Auftakt zu irgendwas gedacht. Die letzten paar Tage über habe ich versucht, es dir nicht schwer zu machen. Keine Tricks. Kein Druck. Ich will, dass du die Dinge klar sehen kannst. Wenn du das tust, wirst du deine Wahl treffen können. Die richtige Wahl.«
»Die natürlich du sein wirst.«
Er zeigte auf meine Wunderkerze. »Beeil dich lieber. Sie ist fast runtergebrannt. Und das ist die letzte vor dem nächsten Feuerwerkstag.«
Ich sah nach unten und stellte fest, dass die Glut beinahe das Ende der Kerze erreicht hatte. Ich sah nach oben in die Bäume, und dann hob ich den Arm und warf, so hoch ich konnte. Der Funke Glut schoss in den Himmel, beschrieb einen Bogen und kam wieder herunter, wobei er sich im Fallen drehte wie ein Komet. Ich sah auf Clay hinab. Er beobachtete die Wunderkerze und grinste mit ebenso viel kindlicher Freude, wie ich selbst empfunden hatte, als ich mit meinem Zauberstab über die Lichtung getanzt war. Ich sah wieder hinauf ins Licht, schloss die Augen und wünschte mir etwas.
Ich wünschte mir, zu wissen, was ich wollte.
Möglichkeit
Wir schliefen bis zur Morgendämmerung im Wald, zogen uns an und gingen, bevor die morgendlichen Jogger und Spaziergänger in unsere Domäne einbrachen. Wir fanden ein winziges Bistro in der Nähe der Yonge Street und frühstückten auf der vorderen Terrasse. Das Bistro war voller Kunden, aber sie
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