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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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sicher doch – ich bin ein Werwolf, oder vielleicht nicht?
    Aber eine Wandlung hier in Toronto war etwas ganz anderes. Fünfundneunzig Prozent meiner Zeit verbrachte ich wie jeder andere normale Mensch auch. Ich stand auf, ging zur Arbeit, nahm die U-Bahn nach Hause, aß zu Abend, verbrachte den Rest des Abends mit meinem Freund und ging schlafen. Ein vollkommen normaler Tagesablauf, der von Zeit zu Zeit von der Notwendigkeit unterbrochen wurde, mich in einen Wolf zu verwandeln, durch die Wälder zu rennen, ein Kaninchen zu erlegen und den Mond anzubellen. Der Gegensatz konnte so groß werden, dass ich oft genug in der Schlucht eintraf, die Kleider auszog und dann splitternackt dastand und dachte: Ich soll jetzt was bitte tun? Halb erwartete ich, irgendwann einmal auf Hände und Knie zu gehen, mich auf die Wandlung zu konzentrieren und festzustellen, dass überhaupt nichts geschah … außer vielleicht, dass ich in einer Zwangsjacke aufwachen und mir von einem freundlichen Arzt zum einmillionsten Mal erklären lassen müsste, dass Menschen sich nicht in Wölfe verwandeln können.
    Als ich mich in dieser Nacht in die richtige Stellung brachte, wirkte es völlig natürlich. Wahrscheinlich hatte es vor allem damit zu tun, dass Clay da war. Er war wie eine Brücke zwischen den Welten. Wenn er da war, konnte ich nicht vergessen, was ich war. Das Schockierende daran war nur, dass es mir nichts ausmachte, dass es sich sogar gut anfühlte. Ich hatte so lang versucht, diese Seite meines Wesens zu unterdrücken in der Überzeugung, dass ich etwas anderes werden musste, um meinen Platz in der Menschenwelt behalten zu können. Jetzt begann ich zu sehen, dass es vielleicht noch andere Möglichkeiten geben könnte. Vielleicht hatte Clay Recht. Vielleicht versuchte ich es wirklich zu krampfhaft und machte es mir schwerer als nötig. In Clays Gegenwart war es fast unmöglich, meine ›menschliche‹ Persönlichkeit lang aufrechtzuerhalten. Ich war ganz ich selbst gewesen – bissig, eigensinnig, streitsüchtig. Und die Welt ringsum war nicht untergegangen. Vielleicht brauchte ich nicht immer die ›gute‹ Elena zu sein, nett und still und bescheiden. Nicht, dass ich sofort Wutanfälle bekommen musste, wenn Philip den Toilettensitz mal wieder nicht herunterklappte oder wenn fremde Leute mir in der U-Bahn auf den Zehen herumtraten, aber vielleicht brauchte ich auch nicht jedes Mal klein beizugeben, wenn sich eine Konfrontation anbahnte. Wenn ich mehr Aspekte meiner normalen Persönlichkeit auf die ›menschliche‹ Fassade übergehen ließ, wäre es vielleicht einfacher, in der menschlichen Welt zu leben, würde es vielleicht sogar natürlich wirken. Vielleicht war dies der Schlüssel.
    Die Büsche raschelten und brachten mich jäh in die Wirklichkeit zurück. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf Clays hellen Pelz, der draußen vorbeistrich. Er stieß ein leises ungeduldiges Knurren aus. Ich lachte und ließ mich wieder in Position fallen, um mit der Wandlung zu beginnen – seltsam genug, dass genau derjenige, der die menschliche Welt am meisten verabscheute, der sein könnte, der mir am meisten half, in ihr zu leben. Clay knurrte wieder und schob seine Schnauze in die kleine Lichtung.
    »Moment«, sagte ich.
    Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu klären, und bereitete mich auf die Wandlung vor.
    ***
    Nachdem wir gerannt waren und uns zurückverwandelt hatten, lagen wir auf einer grasbewachsenen Lichtung, ruhten uns aus und redeten. Es war der dunkelste, stillste Teil der Nacht, lang nachdem der Abend vorüber war, aber noch lang bevor die Dämmerung begann. Trotz der kühlen Luft hatten wir uns nicht wieder angezogen. Die Anstrengung hatte unser Blut so aufgeheizt, dass wir vermutlich bis zum Morgengrauen in einer Schneewehe hätten liegen können, ohne dass es uns auffiel. Ich lag auf dem Rücken und schwelgte in dem Gefühl des kühlen Luftzugs auf meiner Haut. Über mir verdeckten die Zweige Mond und Sterne. Das Licht, das zu uns herabsickerte, reichte eben aus, dass wir nicht in völliger Dunkelheit lagen.
    »Ich hab was für dich«, sagte Clay, nachdem wir uns ausgeruht hatten. Er griff hinter sich ins Dunkel, zog zwei lange Drähte aus seiner Jacke und schwenkte sie über dem Kopf.
    Ich setzte mich auf. »Du hast Feuerwerk mitgebracht?«
    »Heute Abend brennen sie hier zu Lande doch Feuerwerk ab, oder nicht? Hast du gedacht, ich würde deine Wunderkerzen vergessen?«
    Ich liebe Wunderkerzen. Okay, wahrscheinlich

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