Die Nacht des Satyrs
männlich, verhielt die Sache sich gänzlich anders.
Salerno, der damals noch ein junger Arzt gewesen war, hatte ihrer Mutter während der schwierigen Geburt beigestanden. Als Jordan geboren war und sich zeigte, dass ihr Körper sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale aufwies, hatte Salerno sogleich erkannt, welche Möglichkeiten sich hiermit für seine Zukunft eröffneten. Er traf eine Vereinbarung mit ihrer Mutter, gab Jordans Geschlecht als männlich an, und ihre Mutter erbte das gesamte Familienvermögen der Ciettas.
Folglich präsentierte Jordan sich der Welt seit neunzehn Jahren als Mann. Sie trug Hosen, wurde mit »Signore« angesprochen und mit dem Respekt behandelt, der einem wohlhabenden jungen Mann von Rang und Namen zukam.
Doch war es nicht das, was sie sich wünschte. Und mit jedem Tag fühlte sie sich in ihrer maskulinen Verkleidung unbehaglicher, sehnte sich dringlicher nach einer Veränderung.
»Ihr nennt dieses winzige Cannoli einen Phallus?«, höhnte ein Mann, der auf Jordans Genitalien wies.
»Wie man sich erzählt, hört Ihr dieselbe Frage von den Damen in ihren Schlafgemächern«, konterte Jordan spitz.
Der Saal lachte.
»Ja, ich nenne es einen Phallus«, unterbrach Salerno laut, um den nötigen Ernst wiederherzustellen. »Wie würdet Ihr es bezeichnen?«
»Eine hypertrophe Klitoris«, rief der Mann über das Gelächter hinweg.
Salerno winkte ab. »Ausgeschlossen! Ein solches Organ findet sich hier nicht. An seiner Stelle haben wir unstrittig einen Phallus.«
»Darf ich das Subjekt etwas fragen?«, meldete ein anderer Mann sich zu Wort.
»Nur zu!«, antwortete Jordan, ehe Salerno etwas sagen konnte. »Aber ich garantiere keine Antwort.«
»Ruhe bitte!«, dröhnte Salerno, der an den Bühnenrand getreten war. »Sonst brechen wir diese Untersuchung ab.«
Sobald Ordnung eingekehrt war, richtete der Mann seine Frage an Jordan. »Blutet Ihr?«
»Nein«, entgegnete sie achselzuckend. Das war eine leichte Frage.
Der Mann schnippte mit den Fingern. »Also ist erwiesen, dass kein Uterus vorhanden ist. Kein Schoß.«
»Ob ein Uterus existiert oder nicht, konnte bislang nicht geklärt werden«, widersprach Salerno. »Aber gewiss ist Euch bekannt, dass manche Frauen mit weiblichen Organen nicht bluten und dennoch zweifelsfrei weiblich sind.«
»Empfindet Ihr euch ingesamt als männlich?«, fragte eine andere Stimme. »Oder fühlt Ihr Euch eher weiblich?«
Sie sah zu Salerno und antwortete trotzig: »Weiblich.«
»Niemals männlich?«, hakte der Mann nach.
Jordan zögerte. »Nun, die Antwort fällt mir schwer. Beispielsweise erfreue ich mich an Handarbeiten und sonstigen weiblichen Betätigungen. Gleichzeitig sind mir maskuline Beschäftigungen teils sehr angenehm – ein Ausritt auf einem guten Pferd oder mit Freunden zu trinken und zu lachen. Ich möchte indessen betonen, dass ich nicht zur gleichen Zeit sticke und reite.«
Ein paar unsichere Schnaub- und Kicherlaute erklangen, die jedoch gleich wieder verstummten. Ihr Publikum betrachtete sie lieber wie ein Subjekt unter einem Mikroskop. Wenn sie Humor bewies, wurde ihnen unwohl, und sie wussten nicht recht, was sie von ihr halten sollten.
»Täuscht Ihr der Gesellschaft vor, eine Frau zu sein?«, rief jemand.
Salerno hielt eine Hand in die Höhe. »Die Familie des Subjekts untersagt solche und andere Fragen, die Hinweise darauf geben könnten, wer es ist.«
Ein Raunen ging durch den Saal.
»Mir widerstrebt die Bezeichnung
es
, die mir unangemessen und erniedrigend scheint«, beschwerte ein Engländer mit Brille sich.
»Und wie würdet Ihr mich nennen wollen?«, erkundigte Jordan sich.
»Eine Abscheulichkeit!«, schrie ein Mann weit hinten im Theater.
Alle drehten sich um und blickten zum Ende des Mittelgangs. Dort standen zwei Männer, die vorhin noch nicht da gewesen waren. Sie mussten zu spät gekommen sein und sich unbemerkt in den Saal geschlichen haben.
Jordan beugte sich vor und schirmte ihre Augen gegen das Kerzenlicht ab, um besser sehen zu können. Der Mann, der gesprochen hatte, war von fettlich-runder Gestalt; hingegen war der andere breitschultrig mit schmalen Hüften und außerordentlich groß gewachsen. Er musterte Jordan mit einer Intensität, dass sie seinen Blick auf ihrem Leib zu spüren meinte. Hielt er sie gleichfalls für eine Abscheulichkeit?
Sie blinzelte, weil sie sein Gesicht nicht richtig erkennen konnte, doch in dem trüben Licht waren seine Züge unmöglich auszumachen. Er hielt
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