Die Nacht des Satyrs
Kerzen erleuchteten die Bühne, während die Masse der Zuschauer aus Jordans Warte wie eine Ansammlung gespenstischer Schatten aussah.
»Androgynismus wurde noch bei keinem anderen Subjekt, lebend oder tot, in solch starker Ausprägung gesehen«, behauptete Salerno. »Ohne Frage bietet sich Ihnen hier eine einzigartige Forschungsmöglichkeit. Das Subjekt ist neunzehn Jahre alt. Solche Fälle überdauern nicht lange. Ein früher Tod aufgrund von Geschlechtskrankheiten oder Suizid ist das klassische Schicksal dieser Kreaturen.«
Jordan verdrehte die Augen. »Ach, bitte, gebt Euch keine Mühe, meine Gefühle zu schonen!«, murmelte sie leise.
Nicht dass Salerno absichtlich grausam zu ihr war. Er interessierte sich viel zu wenig für ihre Person, als dass er sich die Mühe machte, sie willentlich zu verletzen. Für ihn war sie lediglich eine Kuriosität, nicht zu vergessen ein bedeutsamer Schritt auf seinem Weg zu Ruhm und Ehre in seiner erwählten Profession. Dass sie nebenher ein menschliches Wesen mit Gefühlen war, tat für ihn nichts zur Sache. Und seine mangelnde Empathie machte ihn umso gefährlicher.
Mit der Zeit wurde Salerno des Klanges seiner eigenen Stimme überdrüssig und bat das werte Publikum um Fragen.
»Wozu die Maske?«, erkundigte eine Stimme aus der Menge sich.
»Eine Schutzmaßnahme, die von der Familie des Subjekts verlangt wird«, antwortete Salerno. »Daher auch das Pseudonym, La Maschera.«
»Aber warum ausgerechnet die Bauta? Hätte es nicht jede andere Maske getan?«, fragte jemand anders.
»Ich trug die Bauta des Karnevals schon immer«, erwiderte Jordan, »auch vor den Österreichern.«
Salerno warf ihr einen verärgerten Blick zu. Zwar mochte sie ihm in den meisten Dingen gehorchen, doch sie weigerte sich, das stumme Opfer zu mimen, als das er sie gern gehabt hätte. Daran sollte er inzwischen gewöhnt sein.
Die Zuschauer fragten stets nach der Maske, obgleich sie in diesem Jahr eine besondere Bedeutung gewonnen hatte. Weil einige Venezianer, die nach wie vor gegen die österreichische Herrschaft rebellierten, sich hinter Karnevalsmasken verbargen, wenn sie ihre aufständischen Taten begingen, waren solche Masken unlängst gesetzlich verboten worden. Die Festwoche, die über Jahrhunderte ein fester Bestandteil des städtischen Lebens gewesen war, galt nun als ungesetzlich.
»Lassen Sie mich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf Dinge unterhalb des Halses unseres Forschungssubjekts lenken«, ergriff Salerno wieder das Wort und wies auf Jordans Busen. Seine Hand war kalt, als er eine ihrer Brüste zwischen Daumen und zwei Finger nahm und sie anhob. »Im Verbund mit dem, was sich zwischen den Beinen des Subjekts zeigt, hat der Anblick dieser
Schwellungen
schon für manche
Erregung
im Publikum gesorgt.«
Jordan krümmte sich innerlich bei seinem Wortspiel, das sie an jedem ihrer Geburtstage hörte, seit sie begonnen hatte, Brüste zu entwickeln. An allen anderen Tagen musste sie ihren Busen Morgen für Morgen wegbinden, damit die Illusion gewahrt blieb, dass sie ganz und gar männlich war.
»Sie sind nicht gerade ein Beweis für geschlechtliche Zweideutigkeit«, beschwerte sich jemand. »Ich habe schon Männer mit solchen Titten gesehen.«
»Aber nur fette Männer, würde ich meinen«, konterte Salerno. »Und dieses Subjekt ist wohl kaum fett.« Er ließ die Brust fallen.
»Lasst uns das Subjekt anhören, damit wir die Beschaffenheit und das Timbre seiner Stimme beurteilen können!«, rief ein anderer Zuschauer.
Jordan reckte ihr Kinn. »Was wünscht Ihr, dass ich sage? Dass Ihr eine Kröte seid? Ein Idiot? Ein Esel?«
Der Fragende errötete. Offensichtlich bereuend, dass er gefragt hatte, sagte er unsicher: »Die Stimme ist zu tief für eine eindeutig weibliche, aber zu hoch für eine männliche Stimme.« Dann setzte er sich rasch.
Ein anderer stand auf. »Ist das, ähm, Subjekt frisch rasiert? Hat er, sie, äh …« Seine Worte verloren sich im Saal, als er nach dem richtigen Pronomen suchte.
Nomen hingegen gingen dem Publikum erstaunlich leicht und vielfältig über die Lippen, wenn sie Jordan erblickten: Missgeburt, Exemplar, Subjekt, Monstrosität. In der Pariser Schule der Medizin, wohin sie als Kind zur Beobachtung gebracht worden war, hatte man sie
le malade
getauft, das Kranke. Aber niemand wusste je, welches Pronomen er auf sie anwenden sollte. Manchmal war sie »sie«, manchmal »er«, und schlimmstenfalls, von Salerno imitiert, »es«.
»Ihr dürft euch auf das
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