Die Nacht des Satyrs
wenig schwächer jedoch war ein anderer, kalter Geruch. Das war eindeutig die Duftnote des Todes: von einer menschlichen Frau, die erst wenige Stunden tot sein konnte. Erschrocken blickte er die Treppe hinauf.
»Ganz schön verrückt, was?«, fragte eine näselnde Stimme.
Raines Aufmerksamkeit wurde jäh auf einen Gendarm gelenkt, der keine drei Meter entfernt stand und das Interieur ebenso verblüfft bestaunte wie Raine eben. Der Mann rieb die Bronzebrust einer geflügelten Nymphe und schüttelte den Kopf. »Jemand in diesem Haus hat anscheinend ein Faible für das Feenvolk, nicht wahr? Sie sind sogar in die Messingnachttöpfe eingraviert. Ziemlich bizarr, wenn Ihr mich fragt.«
Jordan hätte ihnen sagen können, welches der Grund war. In der Nacht, in der ihre Mutter ihr einziges Kind empfing, hatte sie einen seltsamen Traum gehabt. Sie träumte, dass der König der Feen sie besuchen kam. Die Geschichte hatte sie Jordan oft erzählt, als sie noch ein kleines Kind gewesen war.
Eines Abends, als Jordans Vater weit weg von zu Hause weilte und ihre Mutter allein in ihrem Bett schlief, hatte dieser Feenkönig ihr ein ganz besonderes Geschenk gemacht: Jordan. Zumindest ging die Geschichte so. Der Traum war sehr lebendig gewesen, und Jordan hatte ihn sich immer wieder gern erzählen lassen. Unterdessen geriet er bei ihrer Mutter zu einer regelrechten Obsession, wie sich an der Einrichtung des Hauses unschwer erkennen ließ.
»Lord Raine Satyr, ich möchte zu Signora Celia Cietta«, meldete Raine sich knapp an. »Und Ihr seid?«
Bei der Erwähnung des Namens Satyr machte der Gendarm sich gleich besonders gerade. »Constable Maci. Darf ich fragen, in welcher Angelegenheit?« Sein unterwürfiger Tonfall legte die Vermutung nahe, dass ihr Gefährte mächtiger war, als Jordan bislang angenommen hatte.
»In privater«, antwortete Raine.
»Verstehe. Und die Dame ist …?«, fragte der Constable und nickte zu Jordan, während er Stift und Notizbuch aus seiner Tasche holte.
»Eine Verwandte«, erklärte Raine, was in gewisser Weise zutraf, floss doch in ihrer beider Adern Anderweltblut.
»Ja, natürlich.« Constable Maci beäugte Jordan prüfend und erkannte schnell, in welcher Beziehung sie zu Raine stand. »Euer Name, bitte?« Er tunkte die Spitze seiner Feder in das Kristalltintenfass ihrer Mutter und hielt sie dann über seinem Büchlein bereit.
»Signor … Signorina Alessandro«, sagte Jordan. »Darf ich fragen, warum Ihr hier seid?«
Er notierte sich erst ihren Namen, bevor er ausweichend antwortete: »In einer Ermittlung.«
»Welche Art von Ermittlung?«, hakte Jordan nach.
Der Gendarm sah zwischen ihnen beiden hin und her. »Dazu werde ich gleich kommen. Zunächst einmal, ist einer von Ihnen mit der Cietta-Familie bekannt?«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Raine.
»Und dennoch betretet Ihr das Haus, ohne vorher anzuklopfen?«
»Das war meine Schuld«, mischte Jordan sich ein. »Ich sah Euer Pferd draußen und wurde neugierig. Ist hier ein Verbrechen geschehen?«
»Geduld, Geduld! Fürs Erste ist wichtig, dass Ihr meine Fragen beantwortet. Nun, wie gut kennt Ihr die Cietta-Familie?«
»Wie ich bereits erklärte, kennen wir sie überhaupt nicht«, erwiderte Raine gereizt.
Der Constable seufzte und tippte sich nachdenklich mit dem Stift an die Oberlippe. »Nun gut. Kommt bitte mit mir!«
Jordan wollte ihm in den ersten Stock folgen, als Raine sie zurückhielt. »Wartet hier!«
Ihr Kopfschütteln hatte zur Folge, dass ihre noch nicht allzu fingerfertig aufgesteckte Frisur leicht zur Seite verrutschte. »Nein, ich komme mit.«
»Dann bleibt hinter mir! Hier stimmt etwas nicht«, warnte er sie.
Besorgt sah sie ihn an und versuchte, seine Mimik zu lesen. Wie in der Nacht zuvor an der Anlegestelle schob sie ihre Hand in seine, als würde sie ihm vollends vertrauen. Und diesmal wies er die Geste nicht ab, sondern schloss seine Finger um ihre.
Der Gestank des Todes wurde stärker, je weiter Raine nach oben stieg, und intensivierte sich, als er den Flur entlangging. Plötzlich stieß der Gendarm eine Tür vor ihnen auf und streckte einen Arm aus, um sie hineinzubitten. Raine betrat das Schlafzimmer, wohingegen Jordan ihre Hand aus seiner zog und auf dem Flur blieb.
Die Elfen, Nymphen und Putten waren hier sogar noch allgegenwärtiger. Die muntere Unbeschwertheit der Dekors und Figurinen stand in einem grausigen Kontrast zu der bleichen Frau auf dem Bett. Jeder sähe auf den ersten Blick, dass die Frau
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