Die Nacht des Satyrs
mit dem Umhang so gut bedecken, wie sie konnte, und sich nach oben in ihr Schlafzimmer schleichen. Das Personal war daran gewöhnt, dass Jordan zu den verrücktesten Zeiten kam und ging, also würde es sich nichts dabei denken.
Raine würde unterdessen an der Vordertür läuten, wie es sich ziemte. War Jordan erst oben in ihrem Gemach, könnte sie in ihre übliche Kleidung wechseln und abwarten, bis er wieder verschwand. So wüsste er nicht, wo er sie suchen sollte, würde zu seiner Gondel zurückgehen und Venedig ohne sie verlassen.
Während sie vor sich hin grübelte, war er wieder ins Zimmer gekommen, und im Spiegel sah sie, dass seine Lippen sich bewegten. Was hatte er gesagt? Hastig faltete sie die Nachricht, drehte sich zu ihm und lüpfte fragend die Brauen.
»Was habt Ihr entschieden?«, wiederholte er. »Begleitet Ihr mich auf meinem Botengang?«
Sie nickte. »Ich komme mit Euch, und ich nehme die Kleider als Lohn für die letzte Nacht. Aber mehr verspreche ich Euch vorerst nicht.«
Er neigte zustimmend den Kopf und reichte ihr seinen Arm. »Dann kommt!«
[home]
13
E s war ein strahlend sonniger Morgen und die Fahrt über die Lagune viel zu kurz. Nervös plapperte Jordan in der Kabine vor sich hin, lockte ihren Begleiter mit Neckereien und allerlei Albernheiten aus der Reserve. Später erinnerte sie sich gar nicht mehr daran, worüber sie gesprochen hatten, aber die Zeit war wie im Flug vergangen und die Überfahrt außergewöhnlich angenehm gewesen.
Beide wurden sie sehr still, als sie sich der Stadt näherten, und anscheinend bemerkte keiner von ihnen, dass der andere so schweigsam wurde, oder aber es kümmerte sie nicht.
Als die Bootsmänner falsch vom Kanal abbogen, hätte Jordan sie beinahe darauf hingewiesen, dass es einen kürzeren Weg zum Cietta-Haus gab. Zum Glück bremste sie sich noch rechtzeitig, und letztlich gelangte das Boot zur Anlegestelle der Piazza, an der Jordans Zuhause lag.
»Ich warte in der Gondel«, ließ sie Raine wissen, »während Ihr Euch Eurer Geschäfte annehmt.«
»Nein, kommt mit mir!«, bat er und reichte ihr den Arm. »Ich schicke die Gondel weg, denn von hier aus nehmen wir eine Kutsche.«
Damit hatte sie nicht gerechnet. Nun blieb ihr keine andere Wahl, als seinen Arm zu ergreifen und auf einen günstigen Moment zu hoffen, in dem sie ihm entwischen konnte.
Seite an Seite überquerten sie die Piazza, und mit jedem Schwingen ihrer Röcke wehte kühle Morgenluft unter die Säume, so dass sie eine Gänsehaut an den Beinen bekam. Die Bänder ihres Huts rieben unter ihrem Kinn, und die Spitze an ihrem Busen kratzte. Jordan genoss das alles, denn mit dieser Kleidung bewies sie der Welt, dass sie eine Frau war!
Als sie zu einer Gruppe Herren sah, die ihnen entgegenkamen, bemerkte sie die Überraschung in ihren Blicken. Zunächst wunderte sie sich, aber dann fiel ihr ein, dass eine Dame schüchterner dreinblicken und einen Herrn niemals direkt anschauen sollte. Würde sie sich, nachdem sie die Freiheiten der Männer gewöhnt war, mit den neuen Beschränkungen eventuell zu schwertun? Würde sie überhaupt lange genug eine Frau sein, um es herauszufinden?
Ihr Haus und zwanzig andere standen wie Pastellsäulen um die Piazza herum. Salernos Kutsche war nirgends zu entdecken. Stattdessen war ein einzelnes Pferd vor Jordans Haustür angebunden, und als sie näher kamen, erkannte sie das Gendarmenwappen auf dem Sattel.
Schlagartig waren alle Gedanken an Flucht vergessen. Jordan lief die wenigen Stufen hinauf, ignorierte den Klopfer und riss die Vordertür auf.
Raine folgte ihr, beäugte kurz die Türklinken, die so geformt waren, wie ein Schmied sich Feen vorstellen dürfte, und fragte: »Habt Ihr noch nie etwas von Anklopfen gehört?«
Jordan blieb stehen und sah ihn schuldbewusst an. »Ich habe nicht nachgedacht. Der Gendarm – seid Ihr nicht neugierig, was hier geschehen sein mag?«
Dann eilte sie auch schon weiter. Auf dem polierten Parkettboden waren ihre Schritte in den dünnen Schühchen auffallend leise.
Raine hingegen stand verwundert in der Diele unten. Überall, wo er hinschaute, entdeckte er Feen, Nymphen, fliegende Armorfiguren, Elfen, Kobolde und Wichtel. Sie flogen und flatterten verspielt auf jedem Läufer, jedem Vorhang, jedem Kerzenhalter, Kronleuchter, jedem und allem. Diese Fülle an geflügelter Dekoration machte ihn schlicht sprachlos.
Zugleich nahm er den Duft lebendiger Wesen im Haus wahr, von denen der vorherrschende männlich war.
Nur
Weitere Kostenlose Bücher