Die Nacht des Satyrs
festhalten, um etwas von ihr zu greifen.
»Was immer Ihr da für ein drolliges Kauderwelsch redet, ich verstehe es nicht«, erwiderte sie.
»Wie interessant, denn in derselben Sprache habt Ihr in Euren Träumen geredet! Erinnert Ihr Euch an irgendetwas davon?«
Ja, sie erinnerte sich nur allzu gut an ihre Träume, aber leider nicht an die Sprache, auf die Raine sich bezog. Sie hatte den schneeweißen Vogel wiedergesehen, bloß dass er kein Vogel mehr war, sondern ihre Mutter. Ihre Brust fühlte sich eng an, und das Atmen strengte sie an. Sie drückte eine Hand auf ihren Rippenbogen, gleich unterhalb ihrer Brüste.
»Dieses Korsett verschwindet jetzt und für immer. Sofort!«, entschied Raine und griff nach ihr.
Jordan schlug seine Hände weg. »Nein, es ist bereits so lose, dass es herunterfällt. Mir geht es gut.«
Stirnrunzelnd lehnte er sich wieder zurück. »Wie Ihr wollt. Aber solltet Ihr nochmals ohnmächtig werden, rechnet damit, dass es fort ist, wenn Ihr aufwacht – meilenweit hinter uns auf dem schlammigen Weg!«
»Wie grausam von Euch!«, entgegnete sie schneidend. Sie roch an dem feinen Leinentaschentuch und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.
»Diese Frau in dem Haus«, begann sie nach einer Weile, als das Schweigen im Wagen bedrückend wurde. »War sie wirklich t-tot?«
Er nickte.
Jordans Wangen glühten. »Nun, lasst mich Euch nicht jede Einzelheit mit der Kneifzange entlocken! Was sagte der Constable, dass mit ihr geschehen ist?«
»Da Ihr so höflich fragt … Er informierte mich, dass ein Selbstmord nicht auszuschließen sei. Den Bediensteten zufolge war die Signora bisweilen melancholisch.«
Ja, ihre Mutter hatte recht empfindsame Nerven gehabt, aufgrund derer ihre Stimmungen unberechenbar auf und ab geschwankt waren. Das wusste Jordan.
»Aber ich dachte, er hätte gesagt, dass sie ermordet wurde.«
Nun war es an Raine, den Kopf zu neigen. »Das ist die Theorie des Constables. Wie er erwähnte, gab es einen Sohn. Es war sein Schlafgemach, in dem Signora Cietta lag. Die Bediensteten erzählten, dass der Sohn und die Mutter sich am Tag vor ihrem Tod stritten, und nun ist er unauffindbar. Somit richtet der Verdacht des Constables sich gegen ihn.«
Sie
war die Hauptverdächtige im Mord an ihrer Mutter?! Jordan richtete sich auf und blickte aus dem kleinen Fenster, vor dem eine Spitzengardine hing; sie hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, der engen Kutsche zu entkommen. Sie wollte vor diesen prüfenden Augen und den Verdächtigungen anderer fliehen. Sich verstecken.
»Wo sind wir?«, fiel ihr erst jetzt zu fragen ein.
»Außerhalb von Padua. Ich nehme Euch mit zu mir in die Toskana.«
Das Gefühl, gefangen zu sein, machte sie wütend. »Diese Entscheidung habt Ihr gefällt, ohne sie vorher mit mir zu besprechen?«
Er hob beide Hände. »Nachdem Ihr ohnmächtig wurdet, schienen meine Möglichkeiten limitiert. Es war an der Zeit für mich, nach Hause zurückzukehren. Ihr wiest keinerlei Anzeichen einer alsbalden Genesung auf. Was sollte ich tun? Euch dem Constable überlassen? Euch zu der Anlegestelle zurückfahren, an der wir uns gestern begegneten, und dortselbst ablegen – ohnmächtig und den verzweifelten kriminellen Elementen ausgeliefert?«
Sie starrte ihn umso zorniger an, als ihr leider nichts einfiel, was sie ihm hätte erwidern können.
»Was schadet es schon, wenn Ihr für eine Weile mit mir kommt?«, fragte er. »Solltet Ihr fürchten, dass meine Gesellschaft Euch unbehaglich wird, kann ich Euch beruhigen. Es gibt andere auf dem Satyr-Weingut, die, wie ich Euch versichern kann, weniger unleidlich sind als ich. Meine beiden Brüder wohnen ebenfalls dort, der eine mit seinem kleinen Sohn, seiner Frau und ihrer fast erwachsenen Schwester. Ihr dürft also deren Gesellschaft sowie jeden Komfort genießen, den eine Dame sich wünschen kann.«
Jordan schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: »Ich lebte bisher nicht als Dame, wie ich Euch sagte. Ihr kennt mich nicht. Und ich bin nicht sicher, ob ich möchte, dass Ihr mich kennt. Nahe beieinander zu wohnen bringt auch fortwährenden Kontakt mit sich.«
»Ich lebe selbst sehr zurückgezogen. Wir müssen überhaupt nicht viel miteinander zu tun haben – nur so viel, wie wir beide wünschen.«
Sie rieb sich die Stirn. »Ich kann nicht einfach verschwinden.«
»Warum nicht? Wer in Venedig würde Euch vermissen?«
Ja, wer? Sie hatte keine Mutter mehr, auf die es Rücksicht zu nehmen galt. Wenn sie verschwand, würde
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