Die Nacht des Schierlings
er sie warnen müssen, nicht gar so heftig Partei für Claes Herrmanns zu ergreifen, damit gab sie dem Klatsch über seine vermeintliche Liebschaft mit ihr nur kräftig Futter. Doch jetzt hatte er anderes im Kopf. «Aber ein Laternenträger hat sich gemeldet», fuhr er fort. «Zu genau der Stunde, in der Hofmann sein Ende im Fleet gefunden haben muss, kam Monsieur Herrmanns zur Trostbrücke, so hat der Mann berichtet, er kam, nun ja, gerannt, das muss man wohl sagen, er war außer Atem und sah höchst derangiert aus. Dann hat er gleich zwei Laternenträger für den Weg bis zum Neuen Wandrahm gemietet, die beiden letzten, die dort auf Kundschaft warteten, und beide gut bezahlt.»
«Höchst derangiert?» Rosina war immer noch ärgerlich. «Was heißt das? Hatte er ein blaues Auge, war sein Hemd zerrissen? Oder fehlte ihm nur der vermaledeite Knopf?»
«Der Knopf, nun, da war der Träger nicht sicher. Es war ja Nacht.»
«Und wozu hatte er eine Laterne? Ja, schon gut», sie winkte mit beiden Händen ab, «ich weiß, wie trübe die sind. Wann hat der sich gemeldet, Wagner? Auch gestern?»
Der Weddemeister rutschte unruhig auf seiner Bank herum. «Heute. Nachdem ich beim Weddesenator war, wartete er vor meiner Amtsstube. Sein Berufsgenosse, den Herrmanns auch engagiert hatte, will alles bezeugen.»
«Wird schon stimmen», meldete Jakobsen sich, seine Stimme klang begütigend, was er leider gleich zunichtemachte. «Davon hab ich auch gehört, Rosina. Es heißt, womöglich hat er beide engagiert, damit nicht der Letzte aus Zufall oder auf dem Heimweg am Rödingsmarkt vorbeikommt und den Toten findet. Gar nicht schlecht gedacht. Warum die sich nicht gleich gemeldet haben, ist doch klar. Bis sich der Verdacht gegen Herrmanns rumgesprochen hatte, gab es keinen Grund, irgendwo hinzugehen und zu erzählen, wer wann eine Laterne gemietet hatte. Und wenn’s so weit ist, überlegt man besser genau, ob man sich mit den Großen anlegt. Gegen einen wie den Herrmanns aussagen traut sich nicht jeder. Erst recht, wenn man ein armes Würstchen von Laternenträger ist oder einer wie der Nachtwächter, der seinen mickrigen Lohn aus dem Rathaus bekommt – das versteht sich doch.»
Wagner nickte und Rosina schwieg. Die Frage, warum sich plötzlich Zeugen meldeten, die zum Nachteil eines Großkaufmanns und auch sonst einflussreichen Mannes aussagten, war noch nicht beantwortet. Vielleicht war es nur der Triumph über einen Großen, der eine Schwäche zeigte, der plötzlich angreifbar geworden war.
«Aber warum?», fragte sie. «Warum sollte Monsieur Herrmanns Molly Runges Stiefvater nach dem Leben getrachtet haben. Nenne mir nur einen Grund.»
«Das war vornehm ausgedrückt, Rosina», brummte Jakobsen, «ich nenn das abmurksen.»
Wagner nahm hastig den nächsten Schluck Branntwein, dann schob er den Krug über den Tisch und wischte sich entschieden mit dem Handrücken über den Mund.
«Natürlich auch wegen der Geschichte vom Frühjahr», erklärte er fest. «Und vom Frühsommer, würde ich meinen. Der Hofmann war schließlich Jungfer Mollys Stiefvater, das neue Familienoberhaupt, da musste er über ihre Ehre und Reputation wachen. Es heißt, es hat schon im Frühjahr ein gewisses, nun ja, Rencontre zwischen Herrmanns und dem Konfektbäcker gegeben. Es soll …»
«Wisst Ihr was, Wagner?» Rosina stand so abrupt und heftig auf, dass die Bank gegen die Wand krachte. «Mir reicht diese Gerüchteköchelei nun. Es soll, es heißt, dieser sagt, jener meint – wie sieht es denn mal mit Tatsachen aus? Mit Beweisen? Mit richtigen Zeugen? Mir ist viel zu viel Gift in dieser trüben Suppe. Andererseits …» Sie setzte sich genauso plötzlich, wie sie gerade aufgestanden war, verschränkte angespannt die Hände im Schoß und sah Wagner aus schmalen Augen an. «Sagt mal, Wagner: Andererseits bedeutet dieser Verdacht gegen Herrmanns zugleich, dass Ihr nicht länger an Mutos Alibi herumkratzen müsst, oder?»
«Oder gerade doch!», stellte Jakobsen trocken fest. «Das ist doch klar, Rosina: Wenn einer wie der Herrmanns in Verdacht gerät, muss ein Sündenbock her. Einer, dem man die Schuld in die Schuhe schieben kann.»
Wäre es nicht um Rosinas Freunde gegangen, die anders als die vornehmen Herrmanns auch seine Freunde waren, hätte er noch hinzugefügt, was er dachte, nämlich dass man im Rathaus schon jetzt einen aussuchte, dem die Leute in der Stadt von den nassen Kellerlöchern bis in die herrschaftlichen Bürgerhäuser eine
Weitere Kostenlose Bücher