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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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überlegt, ob ich nach dir schicken soll. Wen hätte ich sonst holen können? Klara stichelt immer noch Monogramme für diese reiche Braut im Holsteinischen. Hat der arme Kerl keine Freunde?»
    «Dich, mich und Magnus, den Garnisonsdoktor und seine Marie», Rosina hatte den Weddemeister gleich in seiner Ecke entdeckt, «aber sonst? Jedenfalls wenige echte, das bringt sein Amt mit sich, und außer uns keine, die ihn am hellen Tag mit der Branntweinflasche sehen sollten. Wie schlimm ist es?»
    «Noch nicht schlimm. Es fängt erst an. Sieht aber nicht gut aus. In so ’ner Stimmung hab ich ihn selten gesehen, nie, würde ich sogar behaupten. Er sagt aber, es ist alles in Ordnung. Mir will er jedenfalls nichts anvertrauen.» Auch wenn Jakobsen es leichthin klingen ließ, war nicht zu überhören, dass ihn das kränkte. «Wenn du mit ihm redest, Rosina – vielleicht braucht er doch jemand zum Reden, das geht hier vielen so. Eigentlich wollen die gar nicht, was in meinen Fässern ist. Die brauchen nur ’ne geduldige und mitfühlende Seele. Sind schon komisch, die Menschen. Willst du auch was trinken?»
    «Zitronenwasser wäre gut. Hast du welches?»
    «Ist ruck, zuck gemacht. Heiß und mit Honig?»
    «Das wäre wunderbar, Jakobsen, danke. Draußen weht plötzlich ein kalter Wind.»
    Der Wirt des Bremer Schlüssel rieb seine großen Hände erleichtert an der Lederschürze ab, schob seinen mächtigen Leib am Schanktisch vorbei und verschwand in der dahinterliegenden Küche.
    Wagner hatte Rosina noch nicht bemerkt. Er saß in seiner fast einer Nische gleichenden, geschützten Ecke mit dem Rücken zur Tür und zum Schanktisch, was an sich schon ungewöhnlich war. Eingangstüren ließ er nur ungern aus den Augen, auch das war ein Ergebnis seines Berufs. Obwohl er wirklich nicht in jedem Mann einen Schläger oder Betrüger, in jeder Frau eine Diebin oder Kindsmörderin argwöhnte, hinter jeder Tür eine Gefahr oder einen gesuchten Unhold, blieb er stets wachsam. So war es ihm zur zweiten Natur geworden, immer den Überblick zu behalten, was für seine Freunde, eben für diese wenigen, nicht immer angenehm war.
    Außer ihm saßen nur noch zwei Männer in der Gaststube. Sie waren am anderen Ende des Raumes beim Kachelofen in ein leises Gespräch vertieft. Der Ofen war noch kalt, es war ja erst Mitte Oktober, doch schon der Anblick gab ein Gefühl von Wohligkeit. Die Männer trugen einfache dunkle Röcke, der jüngere eine mattbraune Perücke, eine von der billigen Sorte, wie man sie zuhauf sah. Der andere war vierschrötig und beinahe glatzköpfig, seine dünnen restlichen Haare standen ihm unordentlich über den Kragen. Beide tranken Bier, einer hatte einen geleerten Teller vor sich und zerkrümelte noch einen Brotrest. Sie beachteten weder Rosina, was ungewöhnlich war, eine hübsche Frau allein in einem Gasthaus wurde immer beachtet, noch Wagner. Rosina hoffte, dass sie in ihm nicht den Weddemeister wahrgenommen hatten, so bekannt er in der Stadt war, sein schlichter, eher ärmlich als amtlich wirkender Rock und Dreispitz, sein durchschnittliches, oft ausdruckloses Gesicht und die kleine, rundliche Gestalt luden wenig zum Erinnern ein. Was sicher zu seinen Erfolgen als Spürhund beitrug, trotzdem, so wusste Rosina, hätte er gerne eine so elegante, schlanke, hochgewachsene Gestalt mit dem charmanten großbürgerlichen Gesicht gehabt, wie der aus wohlhabender Familie stammende junge Polizeimeister von Altona.
    Doch jetzt dachte sie an sein Verhältnis zu Muto. Sie waren keine Freunde, Muto war ja noch ein Kind gewesen, als sie sich zuerst trafen, und Wagner schon ein gestandener Weddemeister. Doch die Stimmung zwischen ihnen war immer freundlich gewesen, soweit das zwischen einem, der nicht sprach, und einem, der ein strenges Amt auszufüllen hatte, möglich war. Muto gehörte zu denen, die Rosina als ihre geschenkte Familie bezeichnete, die Wagner schon lange kannte und oft und mit Vergnügen getroffen hatte.
    Und nun? Nun war Muto nicht mehr der nette, schüchterne Junge mit dem strahlenden, tonlosen Lachen, nun war er ein kraftvoller Akrobat, der so finster blicken konnte, dass es einen fror. Ein junger Mann voller Wut, der als einer der Letzten Streit mit dem angesehenen Meister gehabt hatte, der nun tot im Grab lag. Ermordet.
    In Rosina stritten zwei starke Gefühle. Da war Zorn, weil Wagner Muto für verdächtig hielt, da war mitfühlende Zuneigung, weil ihn das offensichtlich so betrübte, dass er die Flucht zum

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