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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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mörderische Untat sofort zutrauten, den sie gern am Galgen sahen. Auch gern aufs Rad geflochten, notfalls gevierteilt. Ein Fremder wie der als stumm geltende Akrobat, rothaarig, grimmig, auf den Straßen zu Hause – wer konnte besser passen?
    An der Tür drehte Rosina sich noch einmal um, es kostete sie Mühe, das war in ihrem Gesicht zu lesen, und blickte Wagner abbittend an. «Es tut mir leid, wenn ich schroff bin», sagte sie. «Ich weiß, dass Ihr nicht mein Feind seid. Es ist nur Euer Amt, auch das weiß ich, Eure Pflicht.» Es sah aus, als wolle sie noch etwas sagen, aber sie erinnerte sich nur, dass sie genau das Helena gesagt hatte. So zuckte sie nur traurig mit den Achseln, drehte sich um und war verschwunden.
    Viel mehr noch als Wagner fühlte sie sich in einer Falle. Muto war ihr ein junger Bruder. Claes Herrmanns fühlte sie sich mit Distanz, doch ebenfalls tief verbunden. Sie hatten im Laufe der Jahre viel miteinander erlebt, er war ihr stets mit Respekt begegnet und hatte nie vergessen, was er ihr verdankte. Ihr und der Becker’schen Komödiantengesellschaft. Genau betrachtet sein Leben. Und das seiner Frau. Anne Herrmanns wiederum war längst eine vertraute Freundin, und Madam Kjellerup, die wunderbare Tante Augusta, ach, immer wohlwollend und ein Fels in jeder Brandung.
    Natürlich wusste auch Wagner um diese für sie so bedeutenden Bindungen. Ihm erging es ja nur wenig anders, gerade jetzt hätte er ihre Hilfe bebraucht, ihre Vernunft, ihren Trost. Auch ihren Trotz gegen alle Wahrscheinlichkeiten, wenn ihre Nase – oder ihr Herz – einen anderen Weg wies.
    Und gerade jetzt war das unmöglich. Er hätte gerne geheult. Oder den Branntweinkrug geleert, bis auf den letzten Tropfen. Er ließ beides, er fühlte sich auch so mies genug. Es gab einen Toten, das war nichts Neues, es gab zwei Verdächtige, auch das war nichts Neues und besser als keiner. Dass er diese beiden lange kannte und sie ihm bei allen trennenden Unterschieden ihrer Stände in gewisser Weise freundschaftlich verbunden waren – das war neu.
    Er fühlte sich sehr verlassen und dachte zum ersten Mal ernsthaft daran, sein Amt aufzugeben. Er könnte Wirt werden. Oder Vagabund. Zum Komödianten reichte es leider nicht. Nicht mal zum Hanswurst.
     
    «V ater?» Christian Herrmanns, älterer Sohn, Geschäftspartner und zunehmend ein jüngeres Abbild seines Vaters, kam in langen Schritten durch den vorderen Raum des Kontors. Er nickte nicht, wie es sonst seine Art war, erst dem Ersten und dem Zweiten Schreiber, dann den beiden Handelslehrlingen zu, blieb erst recht nicht bei dem einen oder anderen stehen, um etwas zu besprechen, anzuordnen oder sich erläutern zu lassen, sondern eilte direkt in den hinteren, durch eine halbverglaste Wand abgeteilten Raum. Dort standen sich zwei behäbige Tische mit leicht geschrägter Schreibplatte beim Fenster gegenüber, die Arbeitsplätze von Vater und Sohn. Der offene Schrank mit den vielen Fächern für die nach Orten und Waren sortierten Geschäftspartner, für die zahllosen Kopien von Rechnungen, Bestellungen und Korrespondenzen jeglicher, in einem großen Handelshauskontor üblichen und notwendigen Papiere. An den freien Wänden hingen von der Zeit gedunkelte Porträts des Vaters und Großvaters von Claes Herrmanns, bei seinem Tisch stand eine Vase mit blauen Sternastern und herbstlichem Laub aus Annes Garten, auf einer altmodischen Fayenceschale lagen drei rotbäckige Äpfel von seiner Lieblingssorte und ein paar getrocknete Aprikosen.
    «Hast du davon gehört, Vater?» Christian Herrmanns hatte die Tür geschlossen und ließ sich auf seinen Stuhl fallen, ein weniger bequemes als ehrwürdiges dunkles Möbel mit hoher Lehne und geschnitzten Armlehnen. Sein männlich anziehendes Gesicht war erhitzt, sein volles nussbraunes Haar, das ihm zumeist die lästige Perücke ersparte, hatte sich zur Hälfte aus der Seidenschleife im Nacken gelöst. An einem anderen Tag hätte Claes Herrmanns jetzt gelächelt und wieder einmal gedacht, sein Sohn sei nicht nur ein kluger Kopf, sondern auch sonst ungemein wohlgeraten. Heute blickte er ihn nur abwartend an.
    «Gehört?», sagte er. «Ich höre vieles. Was regt dich so auf? Ist jemand, den wir kennen, bankrottgegangen? Oder hat Madam Schwarzbach endlich für die aufmüpfigste unter ihren fünf Töchtern einen passenden Bräutigam gefunden? War die Kleine nicht mal in ihren Tanzlehrer verliebt?»
    «Die Kleine ist inzwischen eine ansehnliche junge Dame von bald

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