Die Nacht des Schierlings
Christian von der Straße, genauer gesagt, von der Börse und aus dem Kaffeehaus mitgebracht hatte, es ging um Hofmann, und es wurde Zeit, offen darüber zu sprechen. Höchste Zeit sogar. Es mochte unangenehm werden, vor allem vor Anne, seinem kühler denkenden und empfindenden Sohn gegenüber fühlte er sich in dieser Hinsicht weniger verpflichtet, aber danach würde es besser sein.
Z u behaupten, es sei ein wortkarges Mittagessen gewesen, wäre übertrieben, gleichwohl fühlte es sich so an. Christian hatte bis nach der Suppe gewartet, um zu berichten, wie er das erste Raunen in der Börsenhalle gehört hatte und Werner Bocholt ihn beim anschließenden Kaffeehausbesuch vertraulich darauf hingewiesen hatte, welche Gerüchte da hochkochten. Danach hatte ihn noch Götz Oswald gewarnt, ein erfolgreicher, Claes Herrmanns auch in Geschäften verbundener Zuckerbäcker, den Christian seit ihrer Kindheit kannte und sehr schätzte. Anders als Claes’ alter Freund Bocholt, der das Ganze als Unsinn abtat, über den man einfach hinwegging, hatte Oswald an die in absehbarer Zeit bevorstehende Ratswahl erinnert, jeder kenne den Namen des Favoriten. Umso entschiedener müsse man Verleumdungen entgegentreten, es sei nur falscher Stolz, das nicht zu tun. Irgendwann setze sich so ein Gerücht als Tatsache fest, dann sei es zu spät. Ob die Unschuld von der Kanzel verkündet oder in jede Baumrinde geschnitzt werde, etwas bleibe doch davon zurück.
Oswald kannte sich mit Verleumdungen aus, er und seine Frau wären daran vor Jahren fast zugrunde gegangen, das erinnerte Christian ebenso wie Claes Herrmanns.
Bei der Sache mit der Liebschaft habe er, Christian, noch gelächelt, ein solches Geschwätz sei nicht ungewöhnlich und könne niemanden ernsthaft aufregen.
«Außer Molly Runge», hatte Augusta mit ungewohnter Schärfe eingeworfen. Christian hatte entschuldigend den Kopf geneigt, aber das war eine leere Geste gewesen.
Dann kam das wirkliche Übel. Wenn einem reichen, schon ergrauenden Kaufmann und bis dato guten Ehemann eine Liebschaft mit einer jungen Frau unterstellt wurde, war das weder besonders noch empörend, solange sie keine behütete Bürgertochter war. Natürlich behandelte man diese Verbindungen diskret, wenn sie publik wurden, war es ein bisschen peinlich und bedeutete das Ende der Episode, denn mehr sollte es natürlich niemals sein. Ein Mann brauchte ein wenig Vergnügen und Zerstreuung, gerade ein hart arbeitender, für viele Verantwortung tragender Großbürger. Kluge Ehefrauen stellten sich in einem solchen Fall taub, stumm und blind, jedenfalls vor der Öffentlichkeit und den Dienstboten, andernfalls gaben sie sich der Lächerlichkeit preis, zumindest dem Spott hinter ihrem Rücken.
Die Herren untereinander klopften sich derweil anerkennend die Schultern, kniffen feixend ein Auge zu. Es sei denn, einer verfiel darauf, sich in so ein junges, zumeist tief unter ihm stehendes Ding zu verlieben. Das war dumme, jünglingshafte Schwärmerei, so etwas tat man einfach nicht. Dennoch kam all das vor, der Mensch an sich, besonders der Mann, ist zuzeiten ein schwaches Wesen. Dann gab es eine kleine Welle von Geraune und Gelächter, vielleicht auch ein wenig bigotte Empörung, und es war vorbei. Wenn einer aber den Stiefvater seiner Liebschaft ins Fleet stieß und auch noch so unbeherrscht war, ihn dort im Schlick zu ersticken – dann war das ein echter Skandal. Und wenn einer nur in den vagen Verdacht kam, genau das getan zu haben, war das schon so gut wie ein echter Skandal.
«Das ist schändlich», rief Madam Augusta, als Christian endete, «wirklich unverschämt und empörend. Wie kann jemand so etwas behaupten? Wer?»
«Niemand und jeder», antwortete Christian, «wie das immer so ist. Jedenfalls hast du Glück gehabt, Vater, dass du just heute mich hast zur Börse gehen lassen. Für dich wäre es unangenehm geworden, mit so einem Gerücht im Kopf fühlt man sich ständig angestarrt. Es ist mir schon so gegangen. Ich verstehe trotzdem nicht, wie so etwas entsteht. Du hattest doch nie solche Feinde, und wenn bei jeder Wahl für den Rat ein so absonderliches Theater veranstaltet würde – wo kämen wir da hin?»
«Tja.» Claes wusste nicht recht, was er sagen sollte. Ein Claes Herrmanns, der nicht wusste, was er sagen sollte – das war so ungewöhnlich wie eine Sonnenfinsternis. «Ich war in der Nacht unterwegs», resümierte er noch einmal, «ich war bei Professor Büsch in der Neustädter Fuhlentwiete,
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