Die Nacht des Schierlings
den Speichern der Kaufleute geholt, manches in den Läden der Krämer. Gerdi war eine hagere Frau in mittleren Jahren, die ein wenig langsam im Kopf schien, aber fleißig und gewissenhaft war, immer gutwillig. Sie war seit einigen Wochen das Mädchen für alles, zumeist im Haus, oft auch in der Backstube.
Zu Meister Runges Zeiten war die Runde um den Tisch größer gewesen. Ein zweiter Lehrjunge war inzwischen entlassen worden, Hofmann hatte den Lehrvertrag gelöst, es hatte Gerede darum gegeben. Der jüngere zweite Geselle hatte sich ein halbes Jahr nach dem Einzug des neuen Meisters selbst einen anderen Arbeitsplatz gesucht. Es hieß, er sei nun wieder auf Wanderschaft. Molly glaubte trotzdem, ihn kürzlich bei den Fleischschrangen auf dem Hopfenmarkt gesehen zu haben, und hatte Ludwig nach ihm gefragt. Der hatte sich hinterm Ohr gekratzt, das schlecht rasierte Kinn gerieben und endlich gesagt, der Henning sei wieder auf Wanderschaft, bis zu den Franzosen wolle er diesmal, wegen der guten Pasteten. Abenteuerlustiger Kerl, der Henning, schon immer.
«Da hast du dich wohl geirrt, Molly», hatte er resümiert. «Kann schnell gehen bei den jungen Kerlen, die gleichen sich oft. Erst recht, wenn man einen nur in der Menge sieht, und auf dem Hopfenmarkt ist immer Gedränge, grad an den Markttagen, wenn die Bauern mit ihren Booten aus den Marschen kommen und bei den Märkten und Brücken festmachen. Vielleicht hast du Hennings Bruder gesehen. Ich glaub, er hat fünf davon.»
Das war für Ludwig eine lange Rede gewesen, offenbar hatte die Zeit der Schweigsamkeit ein Ende. Er hatte schwer am Tod seines alten Meisters getragen, jeder hatte es sehen können. Nicht dass Runge ihn besonders gut, gar besser als andere behandelt hätte, aber achtzehn gemeinsame Jahre bedeuten eine lange Zeit. Einer wie Ludwig hätte leicht eine andere Backstube gefunden, doch er war geblieben. All die Jahre. Und auch nach Runges Tod, was sicher nicht einfach gewesen war. Vielleicht – Molly hoffte es für ihn – fand er nun allmählich zu seinem Gleichmut zurück, zu seiner Seelenruhe.
Ob nun der richtige Moment war? Alle saßen schweigend über ihr Frühstück gebeugt. Die Speisen waren unter Bruno Hofmanns Herrschaft für alle üppiger, dafür verliefen die Mahlzeiten schweigsamer. Elwa und Ludwig sagten bei Tisch überhaupt nur selten ein Wort, Sven, der Lehrling, wie es sich gehörte nur, wenn er gefragt wurde, was selten vorkam, oder um Erlaubnis zum Reden bat, was er noch seltener tat. Der Junge war nun mal kein Schwätzer, so hatte er es selbst erklärt. Also würden ihr alle bereitwillig zuhören, wenn sie erklärte, was sie heute Nacht entschieden hatte. Sie wollte nicht mehr Molly heißen.
«Ich möchte etwas sagen!» Molly hatte gedacht, ihre Stimme klinge laut und klar, aber sie hörte selbst, wie dünn sie war. «Ja», fuhr sie fort und räusperte sich, «etwas Wichtiges.»
«Nur zu.» Magda Hofmann ließ den Löffel sinken und sah ihre Tochter erwartungsvoll an. «Du bist hier zu Hause, Kind. Wenn du etwas sagen willst, musst du doch nicht um Erlaubnis bitten. Wie eine Dienstmagd bei den Herrmanns.»
Wegen der Herrmanns hätte Molly gerne widersprochen, sie war dort keine Magd gewesen und auch nie so behandelt worden, doch dazu war nun nicht der Zeitpunkt. Sie räusperte sich noch einmal – und sagte nichts. Es müsste doch ganz leicht sein, sie musste nur sagen: «Ab heute heiße ich nicht mehr Molly, sondern so, wie es auf meinem Taufschein steht. Nein, Mutter, nicht Magdalena wie du, das würde nur Verwirrung schaffen. Nennt mich bei meinem zweiten Namen, Maria.»
Sie hob stolz das rundliche Kinn und richtete sich zu ihrer ganzen kleinen Größe auf, soweit das im Sitzen möglich war. Alle blickten sie erwartungsvoll schweigend an, und wie ein Blitz in schwarzer Nacht für den Bruchteil einer Sekunde eine Situation erhellt, sah sie plötzlich, was geschehen würde, wenn sie erklärte, sie heiße von nun an …
«Maria?», würde Bruno Hofmann fragen und sich weit vorbeugen, die Hand hinter dem rechten Ohr. «Ausgerechnet! Die Heilige Jungfrau!» Sein schallendes Lachen wäre bis hinaus auf die Straße zu hören.
«Die Kakaobohnen», stotterte sie, «es ist nur, ja, ich möchte die Kakaobohnen in dieser Woche selber rösten und mörsern. Wenn es recht ist, Ludwig. Weil ich ein neues Rezept ausprobieren will, immer nur mit Vanille und Zimt gewürzt, das wird langweilig. Ich möchte es mit Ingwer versuchen», erklärte
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