Die Nacht des Schierlings
Nachrede tat selbst hier ihre Wirkung. Sie verstand nur nicht, warum der Geselle bei dem Namen Herrmanns zornig wurde. Oder war es ihr eigener Name gewesen? Rosina oder Vinstedt? Rosina stand für die Komödiantin, eine Frau von fragwürdigem Ruf, Vinstedt für die Bürgerin – und die Freundin der Herrmanns. Vielleicht gefiel ihm nichts davon.
Vielleicht war in diesem Haus nur das Geschwätz über Molly und Claes Herrmanns angekommen, ohne dass sie selbst als vermeintliche Dritte im schamlosen Spiel erwähnt worden war. Wenn Ludwig so zornig wurde, angeekelt gar, konnte das doch nur heißen, er glaubte, Claes Herrmanns habe während der Reise seiner Frau tatsächlich die Anwesenheit der jungen, hübschen Köchin …
«Seht es ihm bitte nach», hörte sie die Klärchen genannte Frau leise sagen, «es sind schwere Tage in diesem Haus, das werdet Ihr wissen. Jeder weiß darum. Dazu nun dieser schmutzige Klatsch.» Sie blickte Rosina vorsichtig an, abwägend, auf wessen Seite sie stehen mochte.
«Ja, ich habe davon gehört.» Rosina löste den immer noch an der Backstubentür haftenden Blick. «Auch von dem Klatsch. Ich verstehe nur nicht, warum ihn der Name Herrmanns so – verdrießt? Glaubt er etwa, was die Leute reden?»
Klärchen lächelte. «Verdrießt ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. In den letzten Jahren hatte es sowieso einiges Gerede gegeben, Ihr wisst sicher, was ich meine. Dagegen hat er auch immer angesprochen, er hat nichts auf den neuen Meister kommen lassen. Und jetzt diese Sache mit Monsieur Herrmanns – ich kann mir nicht vorstellen, dass er Molly eine Unschicklichkeit zuspricht. Aber auf irgendwen muss er wohl wütend sein. Verzeiht, Madam Vinstedt, ich plappere. Möchtet Ihr vielleicht von den neuen Sorten versuchen? Ich hatte das Glück, von den ersten Proben zu kosten. Sie sind wunderbar delikat, wirklich wunderbar. Und so anregend, ganz anders als alles, was Ihr kennt.»
Rosina ließ sich ein Tütchen in Zucker und Zimt gebrannte Mandeln und eine Auswahl der just angepriesenen Pralinés einpacken, sie achtete kaum auf die Sorten, sondern lauschte auf die Stimmen, die als Gemurmel durch die Tür zur Backstube drangen. Die schloss nicht ganz, trotzdem war kein Wort zu verstehen.
Als sie den Laden verließ, bemerkte sie immerhin, dass ihr Konfekt in der schlichtesten der verfügbaren Schachteln lag. Wie hatte dieses Klärchen gesagt? «Auf irgendwen muss er wohl wütend sein.» Ein banaler Satz. Warum klang er dann in ihrem Kopf so nach? Weil es zugleich ein beunruhigender Satz war? Er sprach von der Beliebigkeit, von der Zufälligkeit, mit der vieles geschah. Von dem Unrecht, das es bedeuten konnte, wenn ein Mensch zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort war und das Opfer eines solchen Zorns wurde, der sich gegen «irgendwen» richten musste?
Wenn es in diesem Fall so war, mussten sie sich beeilen, sie, Wagner und wer immer helfen konnte, den Mörder Bruno Hofmanns zu finden. Warum war diese Stadt nur so entsetzlich groß? Wie fand man unter hunderttausend Menschen, von denen vielleicht mehr als einer Grund gehabt hatte, den Toten zu hassen, den Richtigen?
Noch schien alles möglich. Aber das war es nicht. Das war es nie. Sie musste nur den richtigen Faden finden, um aus logischem Denken, penibler Beobachtung, notfalls auch aufdringlicher Fragerei und Täuschung endlich das Netz zu knüpfen, in dem sich der Schuldige fing.
W eddemeister Wagner hatte schon früh am Morgen begonnen, diesen Tag zu verabscheuen. Die Zahnschmerzen, mit denen er aufgewacht war, waren zwar vergangen, nachdem er ein Meerrettichpflaster in die Ellenbeuge auf der richtigen Seite gelegt und damit ein paar Tröpfchen Opiumtinktur gespart hatte, die sonst an den Zahn zu reiben waren. Eigentlich hatten ihm alle Zähne wehgetan, als habe er die ganze Nacht versucht, einen Baumstamm durchzubeißen. Doch auf der rechten Seite war es heftiger gewesen.
In der leeren Wohnung hatte er sich, auch nachdem es ihm besserging, sehr einsam gefühlt. Dann hatte er sich ausgerechnet über Rosina geärgert, obwohl es natürlich nicht ihre Schuld war, wenn ihre Bemühungen, Karla lesen und schreiben beizubringen, nur begrenzte Erfolge erzielt hatten. Theoretisch hatte seine Frau in ihrer Kindheit im Hamburger Waisenhaus beides gelernt, aber wenn hundert und mehr Mädchen in einem Saal hockten, wurde eine, die den Anschluss verpasste, gern übersehen oder, wenn sie anstellig war, für die Küchen- oder Näharbeit
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