Die Nacht des Schierlings
eingeteilt. Hauptsache, sie störte nicht. Das hatte Karla, dieses leise Vögelchen, gewiss nicht getan. Jedenfalls kam kein noch so kleines Briefchen, nur einmal hatte sie durch eine der anderen Näherinnen Grüße ausrichten lassen, es gehe ihr gut, das Essen, das ganze Landleben sei wunderbar und Treue und Liebe auf ewig.
Wagner war darüber sehr froh gewesen, gleichzeitig hatte er begonnen, sich zu sorgen, ob sie noch mit dem überaus bescheidenen Leben zufrieden sein werde, das bei ihm auf sie wartete. Daran hatte er auch heute Morgen gedacht.
In seiner neuen Amtstube im Rathaus angekommen, erwartete ihn einer der Ratsdiener, ein hochnäsiger, stets nach einem säuerlichen Duftwasser riechender Kerl. Der Weddesenator erwarte ihn, und zwar längst! Es gehe nicht an, hatte der freche, tief unter ihm stehende Kerl noch erklärt, wenn ein Weddemeister sich als Langschläfer gebärde. Es hatte gerade halb acht geschlagen, und solange Wagner sich erinnern konnte, war Senator van Witten niemals so früh im Rathaus gewesen. Für gewöhnlich war er ein recht generöser Herr, er verstand gut zu leben und brauchte für sein üppiges Frühstück eine erkleckliche Spanne Zeit. Wenn er zu so früher Stunde im Rathaus nach dem Weddemeister verlangte, war das ein schlechtes Zeichen. Zumindest hatte er eine ungute Nacht gehabt, womöglich rebellierte wieder die Galle. Aber Wagner ahnte, nein, er wusste den wirklichen Grund und fühlte Anzeichen von Übelkeit.
Immerhin befahl der Senator dem Weddemeister, Platz zu nehmen. Manchmal vergaß er es, sodass Wagner während des ganzen Gesprächs wie ein Lakai vor dem Tisch stehen musste, was er als Demütigung empfand. Trotzdem wusste er, dass er mit seinem Amtsherrn Glück hatte. Er verstand es, Wagners Arbeit zu beurteilen, und war klarsichtig genug, in ihm den loyalen Diener der Stadt und erfolgreichen Jäger zu erkennen. Ab und zu lobte er ihn sogar, zumindest wusste Wagner, dass er, nein, dass seine Arbeit hoch geschätzt wurde. Er war nicht so dumm, das zu verwechseln. Gleichwohl vergaß auch dieser Senator, nach Art der seit zwei oder drei Generationen reichen Leute, ab und zu, dass nicht jeder ein Domestique war, der kein fünf Fenster breites Haus samt Speicher und einen Garten vor den Toren besaß.
Wagner hockte mal wieder auf der Stuhlkante, bemüht, nicht den Fleck von Eigelb auf der Halsbinde seines Amtsherrn anzustarren, auch nicht das bei ihm noch nie gesehene unrasierte Kinn, sondern ihm tapfer in die Augen zu sehen.
Er berichtete, was seit dem Tod Bruno Hofmanns vonseiten der Wedde bewirkt worden war. So hatte es der Senator ausgedrückt: «vonseiten der Wedde bewirkt!», nicht: «Was habt Ihr unternommen, lieber Wagner, was erreicht und herausgefunden?» Es klang anders als sonst, nämlich schlecht gelaunt und nach wenig Zutrauen.
Wagner schwitzte trotz des kühlen Morgens. Er hätte gern das große blaue Tuch aus der Tasche gezogen, aber vielleicht schwitzte er gar nicht so stark, wie er dachte, und es fühlte sich nur so an. Er referierte kurz, weil es leider nicht viel zu referieren gab. Er berichtete vom Fund und Fundort der Leiche im Fleet, von den Folgen des auf- und ablaufenden Wassers, von den Zeugenaussagen, nämlich denen der Leute im Bremer Schlüssel, wo der Konfektbäcker zuletzt lebend gesehen worden war, und der Nachbarschaft, von dem, was er in der Familie erfahren hatte, auch von dem Gespräch mit Hofmanns Amtsmeister, der in säuerlichem Ton nur das Beste über den Konfektbäcker berichtet hatte.
«Und erboste Ehemänner? Rächende Brüder? Es heißt doch, der Kerl habe keine hübsche Frau ausgelassen, die ihm zuzwinkerte.»
«Keiner weit und breit. Leider, ja. Niemand weiß einen zu benennen, ich denke, das ist nur Gerede.»
Der Senator sah nicht zufrieden aus. Irgendein in seiner und seiner Familienehre gekränkter Wüterich – das wäre doch schön und passend.
Als Wagner endlich den Akrobaten Muto Grimm erwähnte, der jedoch ebenfalls zu vernachlässigen sei, weil er ein Alibi habe, zogen sich die zur Struppigkeit neigenden Brauen des Senators fast bis unter den Rand seiner Alltagsperücke.
«Akrobat, aha», knurrte er. «Einer von den Fahrenden, was?»
«Ja», sagte Wagner, «gewiss», und schwitzte noch mehr. «Er gehört zur Becker’schen Komödiantengesellschaft, Madam Vinstedt hat auch dazugehört, bevor sie, nun, bevor sie sich hier niederließ. Ich weiß, Euer Wohlweisheit kennt sie selbst.»
«Wer nicht? Die reizende
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