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Die Nacht des Schierlings

Die Nacht des Schierlings

Titel: Die Nacht des Schierlings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Mademoiselle Rosina, sagt meine Madam van Witten immer. Jetzt Madam Vinstedt, ja, ich weiß. Guter Mann übrigens, der junge Vinstedt, wirklich guter Mann. Auch mutig, so eine zu heiraten, was? Starker Charakter. Na, die Frau ja auch. Und wirklich hübsch. Und klug, manchmal zu sehr.» Er räusperte sich und blickte wieder Wagner an. «Sie kommt wohl aus einem guten Stall, das lässt sich eben nie verleugnen. Und wir sind tolerant und vernünftig. Aber was ist mit diesem Akrobaten? Auch von ordentlicher Familie? Kommt bei manchen der Komödiantenkerle ja vor, verarmte Studenten oder verkrachte Juristen, sogar Kandidaten der Theologie, wie man mir gesagt hat.»
    «Nein, keine Familie. Leider. Genau genommen weiß man es nicht, er war eines dieser Kinder, die in den Kriegswirren gefunden wurden, in Leipzig. Aber …»
    «Ein Sachse?!»
    «Wahrscheinlich. Er spricht nicht, man kann den Dialekt nicht hören.»
    Der Senator winkte ab. «Gut, gut, Wagner, ich erinnere mich. Alte Geschichte, was? Hat der Junge nicht mal einen unserer Lateinschüler aus dem Moor gezogen? Und jetzt ist er erwachsen und prügelt sich um Mädchen? Die Zeit galoppiert, fatal, was?»
    «Gewiss, die Zeit. Sie galoppiert, zweifellos. Es war, mit Verlaub, keine wirkliche Prügelei, wenn ich es so sagen darf, mehr ein – nun ja, eine Rangelei. Nichts Ernsthaftes, niemand wurde verletzt, ein paar Schrammen vielleicht. Nicht heftiger als auch in einem reputierlichen Gasthaus üblich. Muto, dieser Akrobat, hat einen Zeugen, wie ich schon sagte. Der hat bezeugt, dass der Junge in der Nacht seine Unterkunft nicht verlassen hat.»
    «Und dieser Zeuge ist …? Lasst mich raten, Wagner, der ist einer seiner Kumpane. Einer der Becker’schen Komödianten, was? Wohlmöglich der Hanswurst?» Der Senator amüsierte sich mit gemütlich glucksendem Lachen über seinen Scherz.
    «Sehr richtig, Euer Wohlweisheit, genau der.» Wagner fand das überhaupt nicht lustig. «Er sieht vielleicht ein wenig, nun gut, ein wenig bunt aus, das gehört zu seiner Profession. Dennoch ist er ein unbescholtener Mann. Keiner der Gesellschaft hat sich je etwas zuschulden kommen lassen.»
    «Jedenfalls nicht in dieser Stadt, das stimmt. Aber war der Prinzipal nicht mal in unserem Kerker? Da war doch irgendwas.»
    «Prinzipal Becker», Wagner erlaubte sich, dem Senator beim Erinnern zu helfen, «war damals aber völlig unschuldig. Schuldig war ein angesehener Bürger, leider, aber Monsieur …»
    «Ja, jetzt erinnere ich mich», unterbrach ihn van Witten nachdrücklich, «sehr unangenehme Sache. Du meine Güte, das hatte ich fast vergessen. Ist auch besser so. Beste Hamburger Familie, und dann so was. Andererseits zeigt uns diese Geschichte, wie wachsam wir bleiben müssen; nur weil einer einen Seidenrock trägt und vierspännig fährt, will das nichts heißen. Trotzdem, Wagner, was wissen wir denn, was diese Komödiantenleute anderswo treiben? Und seit die reizende Rosina eine Madam Vinstedt geworden ist und nicht mehr dazugehört, weiß man noch weniger. Oder?!»
    «Nicht unbedingt.» Wagner kratzte allen Widerstandsgeist zusammen, im Notfall hatte er eine ganze Menge davon. «Sein Motiv wäre ein geringes, nur ein bisschen Eifersucht. Er neigt auch nicht zu Schlägereien oder Anfällen plötzlicher Gewalt, hat er nie, nicht mal als Kind.» Wagner fühlte sich jämmerlich. Dennoch straffte er seinen Rücken, rutschte noch weiter auf die Stuhlkante und machte ein amtlich strenges Gesicht. «Aber ich weiß, was meine Pflicht ist, mein Amtseid ist mir heilig. Ich werde weiter jedem noch so kleinen Verdacht folgen.»
    Er kam sich vor wie ein Soldat vor der Schlacht. Seine Hand schob sich ganz von selbst tief in die Rocktasche. Dort lag der silberne Knopf, von dem er nicht berichtet hatte. Noch nicht. Was sollte er tun? Er glaubte zu wissen, wem das blöde Ding gehörte, heute hatte er endlich diese wahrhaft brennende Frage klären wollen. Und nun – kam ihm der Senator zuvor.
    «Ich weiß, das werdet Ihr, Wagner. Ich würde es sowieso bemerken, falls Ihr oder Eure Leute in irgendeiner Weise parteilich werdet. Und Ihr wisst, dass ich das nicht zulasse. Vergesst nie: Vor Gott und dem Gesetz sind wir gleich.»
    Dann murmelte er etwas, das Wagner nicht verstand, es klang nach «jedenfalls halbwegs», doch da musste er sich verhört haben.
    «Es geistern Gerüchte durch die Stadt», fuhr der Senator laut fort, «höchst unangenehme. Darüber wollte ich eigentlich mit Euch sprechen.

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