Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
hatten die letzten Flecken Sonne auf der Wiese erreicht und eine gleichgültige Dunkelheit über den Park gelegt. Der Sandstein-Jüngling hatte seine ursprüngliche Position wieder eingenommen und schaute nachdenklich auf das vor ihm liegende Grab. Elaines flüchtige Vision machte wieder ihrer Vernunft Platz. Die Dunkelheit war nur noch Abendstille. Eckhardt stand vor ihr und schaute abwartend.
"Schön ," sagte Elaine, "gehen wir Kaffee trinken."
***
Elaine wohnte in einem Haus etwas außerhalb der Innenstadt, mitten in einem verfallendem Industrie-Gelände, das nur darauf wartete, von Spekulanten entdeckt zu werden. Hinter dem Haus zog sich ein verwilderter Garten einige hundert Meter bis hin zur nächsten belebteren Straße. Die unteren Etagen waren von mehr oder minder erfolglosen Rechtsanwälten, einem Kreditvermittlungsbüro und einer psychologischen Praxis angemietet. Unter dem Dach wohnte nur sie, und neben ihr seit einiger Zeit eine andere junge Frau, die sie aber bisher nur zweimal flüchtig zu Gesicht bekommen hatte. Elaine vermutete, dass sie von der Sozialhilfe lebte, auf jeden Fall arbeitete sie nicht und reich konnte sie auch nicht sein, sonst hätte sie nicht in diesem Haus gewohnt. Also Sozialhilfe.
Elaine war zufrieden mit ihrer Wohnung, klein aber mein, mit schönen großen Fenstern zum Garten hinaus. Ungehindert schien die Sonne bis zum späten Nachmittag in ihre Zimmer hinein und malte feine staubige Wirbel in die Luft.
Es war zehn Uhr morgens und sie reckte sich noch müde in ihrem Bett. Vorlesungen waren heute nicht, eigentlich hätte sie sich an eine neue Seminararbeit begeben müssen, aber die Ereignisse des gestrigen Tages gingen ihr noch durch den Kopf.
Nach dieser seltsam langen und unwirklich erscheinenden Sekunde war sie mit Eckhardt in das nächste Cafè , das Lenz, gegangen. Sie hatten ein Gespräch geführt, nein, verbesserte sie sich selbst, eigentlich hatte zunächst nur sie geredet, Eckhardt ganz aufmerksamer Zuhörer, gar nicht mehr zynisch, nicht mehr beherrscht, sondern einfach aufmerksam und interessiert, aufgeschlossen. Sie erzählte von ihrem Studium, von ihrer Familie, kam dann wieder auf ihr Studium und ihre enttäuschten Erwartungen zurück, ernster werdend. Eckhardt hatte verständnisvoll genickt. Alles, was die Riten und Gebräuche ferner und fremder Kulturen anging, schien ihn auf eine Weise zu interessieren, die über das Theoretische weit hinaus ging .
Sie unterhielten sich über die Wirksamkeit magischer Praktiken. Die meisten Ethnologen waren der Auffassung, dass der Glaube an die Wirksamkeit solcher Praktiken trügerisch und falsch sei. Wissenschaftliche Forschungen zeigten schlüssig, dass es zwischen Ursache und angeblicher Wirkung solcher Praktiken keinerlei Beziehungen von der Art gab, wie sie im primitiven Glauben unterstellt wurden.
Eckhardt hatte gelangweilt abgewunken und ihr eine andere Meinung präsentiert.
"Natürlich funktioniert Zauberei. Nur nicht in dem Sinne, wie unsere Schulweisheit es uns lehrt. Nehmen wir an, ein Mann wird beim Ehebruch von seiner Frau erwischt. Er bekommt von ihr eine tödliche Krankheit angehext und stirbt einige Monate später an Krebs. Natürlich kann man sagen: Zufall. Aber jedes Placebo wirkt doch aus dem Glauben heraus. Wenn also in unserem Fall der Mann daran glaubt, Opfer einer Verhexung zu sein, dann kapituliert er irgendwann vor dem psychischen Terror und sein Körper entwickelt eine Krankheit. Verstehst du, worum es geht? Es handelt sich um Glaubensvorstellungen, die in einer physischen und psychischen Erregung gipfeln, der das Opfer sich nicht entziehen kann. Zauber funktioniert, wenn alle daran glauben, dass er funktioniert. "
Das war ihr einleuchtend erschienen, aber es war doch etwas ganz anderes, ob es sich um eine psychosomatische Eskalation handelte oder um wirkliche Magie. Es war doch etwas anderes, dass zivilisiertes Denken mit den objektiven Tatsachen übereinstimmte, während das primitive Denken nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmte, zumindest, soweit es die Existenz übersinnlicher Kräfte annahm.
"Genau darum geht es ," hatte Eckhardt lachend gesagt, "Objektivität wird verlangt. Das interessiert sicherlich den Verhexten. Wenn er tot ist, ist er dann subjektiv tot oder ist er es objektiv?"
Elaine lachte mit. Eckhardt zeigte nun ein ganz anderes Gesicht als vorher im Park. Intelligent und witzig.
"Natürlich ist der Mann tot" sagte Elaine, "so tot wie Tod nur sein
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