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Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)

Titel: Die Nacht des Ta-Urt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Bödeker
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nicht alles. Natürlich haben Sie Recht, ich sollte nicht undankbar sein, immerhin macht es Dinge möglich, nicht wahr? Aber wir werden sehen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich muss leider mit einigen Leuten reden, die sich selbst für einflussreich halten. Es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen. Ich habe das deutliche Gefühl, dass wir uns bald wieder sehen werden.“
    Noch bevor Elaine etwas Intelligentes formulieren konnte, drehte Volkmar Eckhardt sich auf dem Absatz herum um und verschwand in der Menge. Etwas verwirrt blieb Elaine zurück. Der letzte Satz klang ihr als mehr als nur eine Floskel in den Ohren, fast eine Ankündigung. Ein Versprechen.
    Aber bevor sie noch weiter darüber nachdenken konnte, was der Verleger mit seiner Bemerkung gemeint haben könnte, versetzte der Sylvester-Countdown aus dem sündhaft teuren Plasma-Bildschirm an der Wand des sündhaft schicken Wohnzimmers die Schar der sündhaft illustren Gäste in einen etwas verkrampften Taumel der Begeisterung über den Tod eines alten und die Geburt eines neuen Jahrtausends.
    So lernte sie Volkmar Eckhardt kennen, und es hatte „klick“ gemacht, ohne dass sie es gemerkt hatte.

 
    ***

 
    Erst einige Monate später, die Milleniumslaunen der Menschen waren im Sande einer gleichmäßigen Geschäftigkeit verlaufen, sollte Elaine Eckhardt wieder sehen. Der Frühling hatte einen grauen und eintönigen Winter verdrängt, der Mai brach an und das Wetter versprach, was das Leben halten muss: Aufbruch.
    Frühlingsgefühle hatten sich bei Elaine aber bisher nicht so recht einstellen wollen. Die bürokratischen Anforderungen ihres Studiums ließen Anflüge von romantischen Stimmungen bei der Lektüre der Bräuche von Trobiandern und Aborigines verfliegen, die Hetze um Seminarscheine und Termine bei unwilligen Professoren verschlugen ihr jede Lust und Möglichkeit sich wirklich auf ihren Stoff zu konzentrieren. Sie wusste schon länger nicht mehr, warum sie überhaupt studierte. Nebenbei musste sie seit einiger Zeit in einem Szenelokal als Kellnerin arbeiten, um sich das spärliche Bafög aufzubessern, und nach dem Studium waren die Aussichten auf eine gut bezahlte Arbeit auch nicht besser. Wer brauchte schon Ethnologen, wo die Forschungsgegenstände immer rarer wurden, ursprüngliche Gesellschaften immer mehr in den Bannkreis zivilisierter Katastrophen gezogen wurden?
    Alles in ihrem Leben schien durch seine regelmäßige Abfolge dem Gesetz der Serie zu folgen: es wird, wie es war, Aufregung nutzlos. Das alles kotzte sie immer mehr an, und eine wirkliche Änderung war nicht in Sicht.
    Aber an diesem speziellen Tag wollte sie sich in ihrer Stimmung dem strahlenden Wetter anpassen und die düsteren Zukunftsaussichten einmal vergessen. Sie saß auf einer Bank, auf einem alten Friedhofsgelände in der östlichen Innenstadt, nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Sie liebte diese Parkanlage, die seit etwa fünfzig Jahren für "Neuzugänge" geschlossen war. Das Gelände war voll von herrlichen Jugendstil-Grabmälern. Lebensgroße Figuren, sanfte, für die Toten himmelwärts bittende Engel und in nachdenklicher Haltung über die Gräber gebeugte Jünglinge waren in pompösen, schmiedeeisernen Umhegungen aufgestellt. Weit ausladende Bäume, sicherlich die ältesten der Stadt, und schöne, wilde Wiesen machten die Anlage zu einem Hauptanziehungspunkt der näheren Umgebung.
    Sie hatte ein Buch über die grönländischen Ureinwohner aus dem Jahre 1922 im Schoss liegen. Die Lektüre schwang noch in ihr nach. Besonders gefiel ihr eine Anekdote, durch die der Autor darlegen wollte, wie anders fremde Völker die Bedeutung des Denkens einschätzten: Als ein Forscher einen Eskimo gefragt hatte woran er denke, hatte dieser geantwortet:
    "Wir Eskimos denken nur an unsere Fleischverstecke für die lange Nacht des Winters, ob wir genug haben werden oder nicht. Wenn das Fleisch in genügender Menge vorhanden ist, haben wir es nicht mehr nötig zu denken." Der Forscher hatte ihn beleidigt, indem er ihm "Gedanken" zutraute.
    Das kam ihrer gegenwärtigen Stimmung nahe. Bäume, Wiesen, Vogelstimmen, das verwirrende Beieinandersein von nahem Tod und Frühlingsaufbruch versetzte sie in einen angenehm melancholischen Rausch, in dem Gedanken nur stören konnten. Sie gab sich den Geräuschen hin und träumte sich in die Wipfel der Bäume hinein.
    Eine Berührung an ihrer Schulter ließ sie aufschrecken. Eckhardt stand neben ihr, ein ironisches Lächeln spielte um seinen

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