Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
irgendwie zu mir gesprochen.
Dann muss ich wieder blinzeln. Und wieder verschwindet der Drache nicht. Ich kann allerdings spüren, wie seine Ungeduld wächst.
Ich rolle mich langsam, ganz langsam auf die Seite, bis wir auf einer Augenhöhe sind, und kneife die Augen so fest zu, dass ich hinter den Lidern ein Feuerwerk in Blau und Grün sehe. Als ich sie wieder öffne, betrachtet der Drache mich mit einer gewissen Verachtung.
»Bist du ein Nachttier?«, flüstere ich, und als mir klar wird, dass ich durch meine Worte nicht erwache, verkrampft sich mein Herz vor Freude.
Gewissermaßen , antwortet der Drache. Sagen wir einfach, dass während der Nacht manches leichter ist.
Dann erhebt er sich langsam aus seiner Kauerstellung, lässt die Schultern genüsslich nach hinten rollen und reckt stolz die Brust. Sobald er kerzengerade dasitzt, den Schwanz ordentlich über die Füße gelegt, muss er so herzhaft gähnen wie eine Katze und zeigt dabei seine langen spitzen und an gedrungene Nadeln erinnernden Zähne. Er rollte die Zunge auf und lässt sie dann aus dem Maul schießen, als wollte er den Geschmack der Luft testen.
Wenn wir heute Nacht etwas unternehmen wollen, sollten wir jetzt aufbrechen.
»Und wohin?«
Der Drache schüttelt sich, es gleicht einem leisen Zittern, und mir wird bewusst, dass es seine Art ist, mit den Schultern zu zucken. Wir begeben uns heute Nacht nicht weit fort, denn du bist noch nicht ganz bei Kräften. Manches müssen wir aufschieben.
Als ich mich aufrichte, erwarte ich, dass ich erwache. Aber der Drache legt nur den Kopf zurück und beobachtet meine Bewegungen.
»Wir dürfen Amy und Paul nicht wecken, wenn wir die Treppe runtergehen«, sage ich, als ich den Pyjama ausziehe und in Jeans, T-Shirt und Kapuzenjacke schlüpfe.
Wir verschwinden selbstverständlich durch das Fenster , sagt der Drache, als ich unten in meinem Schrank nach den Turnschuhen krame. Ich halte inne. »Amy meint, das Dach der Garage sei nicht stabil genug. Sie sagt, ich dürfe nur im Falle eines Brandes darüberlaufen.«
Der Drache verzieht das Gesicht. Du bist nicht schwer. Da passiert schon nichts.
Ich will etwas einwenden, aber dann wird mir bewusst, dass es nichts zur Sache tut – denn es ist ja ein Traum. In einem Traum, in dem ein Drache vorkommt, ist jedes Dach stabil genug. Ich könnte auch träumen, nach unten zu schleichen, ohne Amy und Paul zu wecken … Aber ein Drachentraum muss natürlich spannender sein: Wenn ich nicht mal über das Garagendach klettern könnte, wäre der restliche Traum sicher sehr enttäuschend.
Ich ziehe Turnschuhe an. »Fliegst du?«, frage ich.
Der Drache gähnt wieder. Ich ziehe es vor, auf deiner Schulter zu reisen.
Ich gehe zum Nachttisch und hebe eine Hand, voller Angst, dass sich der Drache in Luft auflöst. Dass mich, wenn ich ihn berühre, so etwas wie ein elektrischer Schlag trifft, der mich erwachen lässt. Stattdessen spüre ich einen festen Druck auf den Fingerspitzen, als der Drache auf meine Hand klettert. Er passt genau auf meinen Handteller, und er wirkt ein bisschen größer, als hätte er jetzt Haut und Muskeln auf dem blanken Knochen. Ich hebe die Hand bis zur Schulter, und der Drache gleitet darauf, schmiegt sich gegen meinen Hals.
Als ich ans Fenster trete, zuckt sein Schwanz gegen mein Schulterblatt. Ich öffne das Fenster langsam und so lautlos wie möglich, weil ich es schöner finde, so zu tun, als würde all dies in Wirklichkeit geschehen – als würde ich tatsächlich mit einem Drachen in die Nacht hinausklettern.
Als ich mich auf die Fensterbank hochziehe, geht mir die Frage durch den Kopf, ob meine Rippen auch im Traum wehtun, und so lege ich vorsichtshalber eine Hand auf die Wunde, bevor ich mich über die Fensterbank schwinge.
Aber dann spüre ich die Nachtluft klar und kalt in Mund und Kehle, sie lässt meine Brust vor Schmerz und Freude anschwellen. Die Welt ist blau und silbrig, scheint im Schein des abwechselnd zwischen den Wolken auftauchenden und wieder dahinter verschwindenden Mondes in ständiger Veränderung zu sein. Das Garagendach hält. Ich gehe bis zum Rand und steige auf die Gartenmauer, folge ihr bis zur Hausecke. Dort lasse ich mich auf den schmiedeeisernen Gartentisch hinab, dann auf einen Stuhl, dann auf die Erde. Ich würde am liebsten über den Rasen rennen, mitten hinein in den Strudel der von den Wolken geworfenen Schatten, in die zuckenden Flecken aus Licht und Dunkel, aber ich weiß, dass mir dies wegen meiner
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