Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
dass er sich vor mir fürchtet – was damit zusammenhängt, dass die einzige Revanche, die mir gestattet ist, in diesem blöden Schulverbot besteht. Ich könnte natürlich auch zur Polizei gehen, aber damit würde ich mich nur selbst quälen. Alles hat damit zu tun, dass ich wütend, stinkwütend bin, weil ich niemandem auch nur halb so wehtun kann, wie man mir wehtut. Das ist mir nur ein einziges Mal geglückt, und die Erinnerung daran wärmt mich, strömt heiß durch meine Adern. Wie herrlich, so mächtig gewesen zu sein. Habe ich je etwas Schöneres erlebt? Ja, ich würde Sonny Rawlins gern zeigen, wie mächtig ich bin.
»Hat ein Schulverbot Folgen für später?«, frage ich. »Zum Beispiel bei einer Bewerbung an der Universität?«
»Tja, so etwas macht sich nie gut«, sagt Mrs Henderson, aber ihr Blick gleitet an mir vorbei, und sie sieht auch Amy nicht an.
»Wenn wir beschließen würden, die Polizei einzuschalten, würde sich das noch schlechter machen«, sagt Amy.
Mrs Henderson verengt die Lippen zu einem Strich des Bedauerns. »Ich begreife, dass Sie diese Möglichkeit reizvoll finden, denke aber, dass beides auf das Gleiche hinausläuft, denn solche Vorstrafen werden später nicht anders behandelt als Rügen aus der Schule. Wenn Sie diesen Weg einschlagen, wäre das traumatisch und …«
»Glauben Sie, es wäre nicht traumatisch für meine Tochter, wenn dieser Halbstarke, der sie ertränken wollte, wieder am Unterricht teilnimmt?« Amy wird meist laut, wenn sie wütend ist, aber heute ist sie leise. Eisig und leise.
»Er wollte mich nicht ertränken«, sage ich. »Er ist ätzend, aber auf normale Art ätzend, Amy.«
Amys Blick wirkt gequält. »Das ist nicht gerecht«, sagt sie, und ihre Stimme zittert.
»Ich bin überzeugt, dass der Vorschlag, den Ihr Mann gestern Abend gemacht hat – Sonnys Eltern zu veranlassen, ihren Sohn in Therapie zu geben, auch, damit er lernt, mit seinen Aggressionen umzugehen –, viel mehr bewirken würde.«
»Würde außerdem weniger Wirbel bedeuten«, bemerkt Amy bissig.
»Ja«, sagt Mrs Henderson, und ihr Ton ist plötzlich scharf. » Wesentlich weniger Wirbel. Und zwar für alle. Sie kommen nicht weit, wenn Sie die Polizei einschalten. Was nicht bedeutet, dass ich Ihre Beweggründe nicht verstehe«, fügt sie hastig hinzu und hebt eine Hand, obwohl Amy keine Anstalten macht, sie zu unterbrechen, »oder keinen Druck auf Sonnys Eltern ausüben würde. Ich bin mir sicher, dass sie sehr unglücklich sein werden, wenn sie feststellen, dass die hier getroffene Übereinkunft nicht zur Diskussion steht. Zumal ich andernfalls dazu gezwungen wäre, etwas wesentlich Drastischeres als ein kurzes Schulverbot zu erwägen. Und diesen Ärger werden sie nicht in Kauf nehmen wollen.« Mrs Henderson schaut mich an, und was in ihrem Blick liegt, überrascht mich. »Das wäre besser als nichts«, sagt sie zu mir. Und dieses Mal ist ihr Bedauern aufrichtig.
Genau wie mein Lächeln. Mir gefällt die Vorstellung, dass Mrs Henderson Sonny Rawlins und seine Eltern erpresst, denn ich weiß, dass es nach hinten losgehen würde, wenn Sonny Rawlins büßen müsste – richtig büßen. Trotzdem finde ich es falsch, dass die Dinge sind, wie sie sind: Es ist falsch, dass manche Leute davonkommen, während andere die Zähne zusammenbeißen müssen, weil sie wissen, dass sie nicht davonkommen würden.
Ich habe jetzt zwar Amy und Paul und Onkel Ben, und ich möchte das um nichts in der Welt aufs Spiel setzen, aber ich befürchte, dass diese Ungerechtigkeit eines Tages in mir hochkocht, dass ich dann nur noch daran denke, dass mich alles, was ich zu verlieren habe, daran hindert, frei zu sein. Mächtig zu sein. Selbst für Gerechtigkeit zu sorgen.
Amy hat mir oft erzählt, dass wir alle bald blind wären, wenn wir uns an das Prinzip »Auge um Auge« halten würden. Das stammt von Gandhi, ich weiß, und wenn man in einer guten Welt leben möchte, ist es natürlich richtig, das zu sagen. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Außerdem weiß ich leider ganz genau, dass Sonny Rawlins es nie mehr wagen würde, mich auch nur anzugucken, wenn er mal so richtig büßen müsste. Das wäre dann nicht wie damals mit den Blumen oder mit den Zigaretten oder bei all den anderen Gelegenheiten, bei denen ich mich zu wehren versuchte, immer mit der Folge, dass er mich noch stärker drangsalierte. Nein, das wäre kein kleiner, flüchtiger Sieg, sondern einer, der Sonny seine eigene Bösartigkeit spüren lassen
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