Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
würde – Ja, ich weiß, wie diese Blumen heißen. Wenn ich ihn so richtig büßen lassen könnte, dann würde er für immer Ruhe geben.
»Miss Winters hat angeboten, nach Sonnys Rückkehr in die Schule besonders gut achtzugeben. Ich hoffe, das gibt Evie ein besseres Gefühl«, sagt Mrs Henderson, als ich endlich wieder zuhöre, »und ich bin sehr zuversichtlich, dass ihn das zukünftig im Zaum halten wird. Gibt es noch etwas, das du ansprechen möchtest, Evie?«
Paul drückt mein Schulter. Als ich mich zu Amy umdrehe, stelle ich fest, dass sie immer noch wütend und frustriert dreinschaut.
»Nein«, sage ich. »Nichts.« Ich verschließe die Ohren vor den Abschiedsworten Mrs Hendersons.
Als wir gehen, ist der Unterricht zu Ende und wir holen nur noch meine Sachen aus der Klasse. Auf der Heimfahrt starrt Amy aus dem Fenster, und Paul trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Er hat kaum gehalten, da springt Amy schon aus dem Auto.
Paul zieht ein Gesicht und seufzt. Wir gehen in die Küche. Amy reißt Schranktüren auf, öffnet die Schubladen mit so großer Wucht, dass das Besteck klirrt. Eine Gabel fällt zu Boden, prallt ab und kullert dann mit einem Geräusch wie ein Trommelwirbel über die Fliesen, als wollte sie unbedingt in der Luft bleiben. Sobald die Gabel still daliegt, blicke ich auf und sehe, dass Amy beide Arme auf die Spüle gestemmt hat.
»Tut mir leid, Evie.« Sie klingt heiser.
»Schon gut«, flüstere ich. Schlucke und wiederhole lauter: »Schon gut.«
Amy schüttelt den Kopf, dreht sich jedoch nicht um.
Paul will sie am Arm berühren, aber sie weicht aus, zieht die Finger durch ihr Haar. »Ich weiß, dass du mich für zu nachgiebig hältst«, sagt Paul beklommen, »aber Evie schleppt auch ohne eine sinnlose Schlacht genug mit sich herum.«
»Sie wäre nicht sinnlos, Paul«, zischt Amy, die uns immer noch nicht anschaut.
»Doch«, sagt Paul, während ich einen lautlosen Schritt zur Tür tue, »das wäre sie.«
»Wir würden vielleicht nicht siegen, aber sinnlos wäre sie deshalb noch lange nicht«, flüstert Amy. Ich tue noch einen Schritt. »Manchmal muss man kämpfen, Paul. Wir können nicht immer klein beigeben.«
»Und in welche Schlacht sollten wir ziehen?«, fragt Paul abrupt. »In die kleine oder in die große? Wir könnten beide nicht gewinnen, und Evie würde sie ausfechten müssen, denn sie hätte die meiste Last damit. Welche der zwei Niederlagen wäre besser für sie?«
Ich wende mich ab und lasse sie allein. Sie verstummen, als ich nach oben gehe.
»Wir sollten unsere Kraft in Sinnvolleres stecken«, höre ich Paul sagen, als ich oben angekommen bin. »Es gibt nicht nur einen Weg zum Ziel, Amy.«
Ich mache es mir mit einem Buch im Bett gemütlich, habe jedoch kaum eine Zeile gelesen, als Amy eine Stunde später kommt, um mich zum Essen zu rufen. Ihre Augen sind rot. Wir essen schweigend, aber die Spannung, die während der ganzen Woche geherrscht hat, ist vorerst verflogen. Amy geht früh zu Bett, und Paul und ich gucken noch einen Film. Nur dass keiner von uns beiden hinschaut. Ich beobachte stattdessen Paul, der den Fernseher mit leerem Blick anstarrt, und frage mich, ob wir beide über das Gleiche nachdenken: über andere Möglichkeiten, Gerechigkeit zu erlangen, und über seine nächtlichen Abenteuer mit Onkel Ben. Und da wird mir bewusst, worin mein »aber« besteht, warum ich in der Sache mit Sonny Rawlins eher auf Pauls denn auf Amys Seite stehe. Ich finde es zwar toll, dass sie es auf meine Bitte hin tun würden, aber ich will nicht, dass Amy und Paul diese Schlacht für mich schlagen, weil sie nicht ansatzweise ahnen, wie sehr ich mich danach sehne, dass Sonny Rawlins büßt. Sie würden ihn nie dazu bringen, dass er ernsthaft bereut. Sie haben einfach nicht das Zeug dazu.
Und dafür liebe ich sie. Ich liebe sie, weil sie nicht wissen, dass Macht herrlich und schrecklich zugleich ist, und es wäre unerträglich, wenn sie diese Ahnungslosigkeit durch mich verlieren würden – das wäre zutiefst falsch. Wenn, dann hätten sie es beim Tod von Adam und Tante Minnie, Oma Florrie und Opa Peter lernen müssen, aber so war es nicht. Und jetzt darf es auch nicht dazu kommen, schon gar nicht meinetwegen. Denn wenn es geschähe, würde das bedeuten, dass Fiona und ihre Eltern Amy, Paul und Onkel Ben etwas von dem rauben würden, was die drei so anders sein lässt. Es würde bedeuten, dass die besten Menschen, die ich kenne, ein bisschen wie die schlimmsten wären.
Doch
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