Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Wissen, dass sie sich noch einmal zu mir umdreht. Sie tut es tatsächlich, wirbelt grinsend herum und winkt mir. Ich winke zurück, und dann ist sie verschwunden.
Als ich unser Haus betrete, ist Amy gerade oben beschäftigt, ruft aber ein »Hallo!«, und ich antworte, dass ich einen Tee kochen wolle. Zuerst gehe ich jedoch zum Fernseher, um die Nachrichten zu gucken, setze mich ganz vorn auf den Rand des Sofas und beuge mich gespannt vor … Aber da ist nichts, rein gar nichts, und bei den Sportnachrichten stapfe ich in die Küche und schalte wütend den Wasserkocher ein, sacke mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Anrichte und glotze grimmig den Kühlschrank an.
Vielleicht wird erst morgen darüber berichtet, rede ich mir ein. Man findet nicht immer sofort heraus, was passiert ist. Das kann Tage dauern, eine ganze Woche …
Mich schaudert, und ich stoße mich ab, hole die Becher und die Milch, fülle Zucker in ein Schälchen, tue Kekse auf einen Teller. Ich muss mein Denken ändern, denn so kann es nicht weitergehen, ich kann nicht Tag für Tag warten, hoffen und wünschen. Ich knalle den Deckel so heftig auf die Teedose, dass er eine Delle bekommt. Plötzlich kommen mir die Tränen, und ich klammere mich mit hängenden Schultern an die Anrichte, denn ich war überzeugt, fest davon überzeugt, dass Paul und Onkel Ben während des Dunkelmonds irgendetwas unternehmen würden, obwohl ich mir natürlich immer wieder eingeredet habe, dass es ebenso gut andere Gründe für ihre nächtlichen Ausflüge und jene Geheimnisse geben könnte, die sie nach Meinung Onkel Bens nicht mit Amy, wohl aber mit mir teilen könnten … All die Sorgen und die Schuldgefühle und die vielen Nächte, in denen der Drache und ich zu Hause geblieben sind – alles umsonst.
Ich stoße mich von der Anrichte ab und poltere die Treppe hinauf, knalle die Tür hinter mir zu, werfe mich auf mein Bett.
»Evie? Ist alles in Ordnung, Evie, mein Liebes?«, ruft Amy.
»Komme gleich!«, stoße ich trotz der Tränen hervor und bohre die Fingernägel in die Handfläche, damit meine Stimme nicht schwankt.
Ich höre, wie Amy die Treppe hinuntergeht, und beiße mir auf die Lippen, um nicht zu schluchzen. Ich packe den Drachen und rolle mich auf den Bauch, presse mein Gesicht in mein Kissen.
Der Drache windet sich um meinen Daumen und drückt die Schnauze gegen meine Nase. Jenseits des Tränenschleiers wabert sein Umriss wie verfliegender Dunst. Ich habe keine Ahnung, warum ich mich so furchtbar fühle. Ein Teil von mir ist glücklich und erleichtert darüber, dass Paul und Onkel Ben nichts getan haben, was sie unglücklich machen würde oder böse Folgen hätte. Ein anderer Teil ist wütend, enttäuscht und fühlt sich verraten … Außerdem bin ich vor Erwartung außer Atem, obwohl ich vorhin so benommen war.
Ich zucke zusammen, als sich eine nadelspitze Klaue in meinen Finger bohrt.
Mutmaßungen sind unsinnig , sagt der Drache. Wir müssen wachsam bleiben. Wir wissen nicht, was geschehen ist oder noch geschehen wird. Wir müssen abwarten.
Der Umriss des Drachen verschwimmt wieder, und meine Verwirrung hinsichtlich der Frage, ob Paul und Onkel Ben etwas angestellt haben – und ob das gut wäre oder schlecht, schlecht, schlecht –, wird von der Angst verdrängt, dass sich der Drache vor meinen Augen auflösen könnte.
Ich bin noch da , sagt der Drache.
Ich liege zitternd und mit weit aufgerissenen Augen da, als könnte sich beim kleinsten Blinzeln herausstellen, dass es keinen Drachen gibt, sondern nur mein kleines, geschnitztes Stück Rippe.
Ich bin noch da , wiederholt der Drache.
Ich hole tief Luft und blinzele unabsichtlich.
Der Drache betrachtet mich mit festem Blick.
Ich hole noch einmal Luft. Und blinzele.
Der Atem des Drachen wärmt meine Handfläche.
Ich bin noch da , sagt der Drache wieder. Was brauchst du mehr?
Noch ein Atemzug. Noch ein Blinzeln.
Ich begegne dem Blick des Drachen.
»Nichts«, sage ich.
Der Drache lächelt.
»Evie, Schätzchen? Lynne und Phee sind da«, ruft Amy aus dem Flur.
Ich werfe das Buch weg und renne nach unten. Paul, der auf dem Sofa sitzt, hebt lächelnd den Kopf. »Bist du so wild darauf, an einem Samstagvormittag deinen in die Jahre gekommenen Eltern zu entfliehen?«
Ich umkurve lächelnd das Sofa, überhöre Amys Ermahnung, vorsichtig zu sein. Lynne und Phee stehen dick eingemummt im Flur und grinsen hochzufrieden.
»Man sehe sich dieses Grinsen an«, sagt Onkel Ben zu mir.
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