Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
versehentlich unter einen Fingernagel steche. Doch ich kauere nicht dort, kaue auch nicht auf den Haaren und warte nicht darauf, dass Lynne und Phee zu mir kommen, um mich abzulenken. Stattdessen sitze ich mit Amy und Paul im Büro der Schuldirektorin und warte darauf, dass sie das Gespräch mit ihrer Sekretärin beendet, damit wir über Sonny Rawlins reden können.
Ich kann mich ganz darauf konzentrieren, wie sehr ich Sonny Rawlins hasse, und vermutlich ist dies die einzige Gelegenheit, das zu tun, ohne dass mir jemand deshalb Vorwürfe macht. Aber aus irgendeinem rätselhaften Grund, den noch nicht mal ich selbst genau kenne, kann ich Amy nicht dabei helfen, ihm das Leben so sauer wie möglich zu machen.
Ich spitze die Ohren, um zu hören, was Mrs Henderson im Nebenraum sagt, aber dort reden zu viele Leute durcheinander, und im Übrigen ist mir Mrs Hendersons Meinung ziemlich egal. Paul setzt sich seufzend anders hin, reibt seine Nase. Amy starrt ihn an und beginnt dann, den Rock über ihren Knien in kleine Falten zu legen, während Paul so tief einatmet, als wollte er wieder seufzen. Doch er zieht nur ein Gesicht und atmet leise aus.
Amy, Paul und ich haben voneinander die Nase voll. Amy möchte mir vor Augen führen, dass sie bereit sind, für mich einzutreten, dass sie niemanden davonkommen lassen wollen, der mir wehgetan hat. Und das verstehe ich. Wirklich. Ich weiß es auch zu würdigen. Das weiß ich wahrhaftig, aber … Ich weiß nicht recht, worin dieses »aber« besteht. Es ist nur ein aber . Vielleicht hat es damit zu tun, dass Amy nach Blut schreit, Paul jedoch zögert, durch Hinzuziehung der Polizei oder eines Anwalts in der Schule für noch mehr Aufruhr zu sorgen. Also ist Amy sauer auf Paul, und ich bin eindeutig sauer auf Amy, weil sie so viel Druck macht, und weniger eindeutig sauer auf Paul, weil er zaudert.
Ich freue mich auf mein Gespräch heute Abend mit Miss Winters, denn vielleicht kann sie mir dabei helfen, die Dinge klarer zu sehen, vorausgesetzt, sie hat sich jetzt oft genug bei mir entschuldigt. Sie kam am Tag nach dem Vorfall im Schwimmbad bei mir vorbei und war ganz aufgelöst, weil sie sich vorwarf, die Sache nicht vorhergesehen zu haben … Aber nachdem ich ihr überzeugend erklärt hatte, schlimmstenfalls damit gerechnet zu haben, dass Sonny Rawlins mir im Flur ein Bein stellt, verblassten die roten Flecken auf ihren Wangen, und sie wurde wieder normal. Dann machte Amy uns einen großen Becher heiße Schokolade und spielte eine Stunde Cluedo mit uns.
Aber meine Haltung war schon damals sonderbar. Als Miss Winters schwor, sie werde Mrs Henderson klipp und klar zu verstehen geben, dass der Vorfall im Schwimmbad keine Bagatelle sei, bat ich sie, dies nicht zu tun. Sie glaubte, dass ich unsere Treffen vor Mrs Henderson geheim halten wollte, aber das ist nicht der Grund. Jedenfalls nicht der wahre. Nein, es liegt daran, dass ich nach allem, was passiert ist, ganz durcheinander bin – dass wir alle so durcheinander sind.
Mir ist durchaus bewusst, dass ich Sonny Rawlins in meinen Gedanken mit Fiona und ihren Eltern vermische, und mir ist auch bewusst, dass es Amy und Paul genauso geht. Das ist mir klar, aber warum ich nicht will, dass zu viel Wirbel um Sonny Rawlins’ Tat gemacht wird, weiß ich trotzdem nicht. Es liegt zum Teil sicher daran, dass ich das Getuschel in der Schule schon ätzend genug finde, ganz zu schweigen davon, dass mich sogar Schüler anderer Jahrgangsstufen gefragt haben, ob Sonny Rawlins verhaftet wurde und ob ich vor Gericht gegen ihn aussagen werde. Aber auch das ist nicht der wahre Grund.
Amy schlug vor, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Nicht, dass Sonny Rawlins dann ins Gefängnis müsste oder so, aber er hätte daran zu knabbern. Ich hasse es jedoch, mit der Polizei zu reden. Onkel Ben sagte, die Polizei müsse feststellen, ob eine Aussage vor Gericht Bestand habe, und das verstehe ich, aber Polizisten sind meist unfreundlich. Die Frau, die mich damals über Fiona und deren Eltern befragte, war grauenhaft. Ich hasse sie zehn Mal mehr als jeden Sonny Rawlins. Sie erlaubte mir keine Ausflüchte. Und sie notierte alles, was ich gesagt hatte, mit ungefähr sieben Millionen Rechtschreibfehlern und lausiger Grammatik. Was sie aus mir herausquetschte, hätte ich niemals laut gesagt … ganz sicher niemals irgendjemandem erzählt … Und sie notierte alles mit ich weiß nicht wie vielen Fehlern.
Ich bin froh, diese Gedanken beiseiteschieben zu
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