Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
können, als Mrs Henderson zurückkehrt und durch das Zimmer zu ihrem Schreibtisch geht.
Sie lehnt sich auf dem Stuhl zurück, stützt die Ellbogen auf die Armlehnen, legt die Fingerspitzen beider Hände aneinander.
»Bitte verzeihen Sie«, sagt sie lächelnd, aber ihre Finger verkrampfen sich so fest ineinander, dass die Knöchel weiß werden. Ich bekomme ihre nächsten Worte nicht mit, weil ich inständig hoffe, dass sie mit ihren verschränkten Fingern wackelt, als wären es die Beine eines Tausendfüßlers, der auf dem Rücken liegt, nachdem man im Garten einen Stein angehoben hat, um zu schauen, was sich darunter verbirgt.
»Evie?«, souffliert Amy, und mir wird bewusst, dass sie die Antwort auf eine Frage erwarten, die ich nicht gehört habe.
Mrs Henderson legt die Fingerspitzen wieder aneinander, und ich frage mich, ob sie im Stillen um Geduld betet. »Was ist deiner Meinung nach zu tun, Evie?«
Was soll ich darauf antworten? Werfen Sie ihn bitte in ein Fass mit siedendem Öl? Sie glauben vielleicht, dass sie mir Genugtuung verschaffen können, aber ich will mich nicht aufregen, solange sie mir nur zuhören . Und ich werde ganz sicher nicht zulassen, dass sie mich so lange bearbeiten, bis ich einem schon längst gefassten Beschluss zustimme.
»Ich halte Sonny Rawlins für einen ätzenden Brutalo, aber er wollte mich vermutlich einfach nur ins Wasser stoßen, so wie er es bei jedem anderen auch gemacht hätte. Er hat wahrscheinlich gewusst, dass ich empfindlicher bin als andere, aber ich glaube nicht, dass er abschätzen konnte, welche Folgen seine Tat haben würde«, sage ich, obwohl ich nicht weiß, warum. Was mich betrifft, so könnte Sonny Rawlins auf der Stelle tot umfallen.
»Das ist eine sehr erwachsene Sichtweise, Evie«, sagt Mrs Henderson. Die langen, lackierten Fingernägel ihrer rechten Hand gleiten unter die langen, lackierten Fingernägel ihrer linken Hand.
»Wir wissen alle, dass Evie sehr erwachsen ist«, faucht Amy. Paul beugt sich vor, als wollte er eine ihrer Hände ergreifen, aber sie rutscht von ihm fort, stopft sie in die Taschen.
»Freut mich zu hören, dass du weißt, wie Sonnys Tat einzuschätzen ist, Evie«, wirft Mrs Henderson ein und seufzt dann etwas zu laut. »Aber die Frage nach seiner Bestrafung hast du noch nicht beantwortet.«
Ich zucke mit den Schultern, betrachte weiter ihre Hände. Sie hat unbewusst an dem Fleck auf einem Ordner gekratzt, und dabei ist etwas Nagellack abgesplittert. Ihre Wangenmuskeln sind in heftiger Bewegung, als sie den gelblichen Fleck anstarrt, der unter dem weißen Nagellack zum Vorschein gekommen ist.
Ich würde gern höhnisch den Mund verziehen, aber meine Stimme bleibt zum Glück neutral. »Amy und Paul haben mir erzählt, dass Sie ihn nicht angemessen bestrafen können, weil er es in der Badeanstalt und nicht in der Schule getan hat, und dass Sie ihn deshalb wegen schweren Mobbings drankriegen wollen. Sie haben mir erzählt, dass Sie ihm mindestens zwei Wochen Schulverbot erteilen können.«
»Und du findest das gut.« Eine Feststellung, keine Frage.
Aber das macht nichts, denn ich weiß sowieso nicht, was ich denken soll. In der Schule tuscheln alle, und manche meinen schon jetzt, es sei nicht Sonny Rawlins’ Schuld, dass ich so superempfindlich bin. Andere unterstellen mir, dass ich den ganzen Wirbel nur mache, weil ich im Mittelpunkt stehen will. Und ich möchte ganz sicher nicht bei jeder Gelegenheit von Sonny Rawlins oder seinen miesen kleinen Kumpanen in den Fluren geschubst werden – die Sache im Schwimmbad war so demütigend, dass es für mehrere Leben reicht. Da muss ich nicht auch noch vor den Augen der ganzen Schule in irgendeinem Flur das Bewusstsein verlieren.
Miss Winters wird mich bei unserem nächsten Treffen sicher fragen, ob ich mich jetzt vor Sonny Rawlins fürchte. Ich würde das gern verneinen, aber so einfach ist die Sache nicht. Einerseits habe ich keine Angst vor ihm, denn ich weiß, dass er nicht davonkäme, wenn er mich ernsthaft verletzen würde – er kommt ja nicht einmal jetzt davon, auf jeden Fall nicht ganz –, und dass er es nur dann ein zweites Mal versuchen würde, wenn er die Gewissheit hätte, nicht dafür bestraft zu werden. Trotzdem könnte er mir das Leben weiter zur Hölle machen.
Nein, ich habe Angst, weil ich mir wünsche, es möge ihm mindestens genauso mies gehen wie mir, nachdem er mir das angetan hat, am besten sogar noch viel mieser. Das ist das eine. Andererseits möchte ich,
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