Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Paul begreift das nicht. Man begreift das sowieso erst, wenn alles zu spät ist.
»Was ist diese Woche nur los mit dir?«, zischt Lynne und gibt mir einen Tritt gegen den Fußknöchel, damit ich mich wieder auf die Tafel und den Quatsch konzentriere, den wir abschreiben sollen. Ich kratze mit dem Füller auf der Seite herum, denke aber weiter an letzten Freitag: die Nacht des zweiten Dunkelmonds, seit ich mir den Drachen herbeigewünscht habe.
Der Drache und ich waren zu Hause geblieben, aber ich hatte die ganze Zeit auf die Rückkehr von Paul und Onkel Ben gehorcht und war beim ersten Geräusch zum Fenster gerannt. Doch Paul war allein. Er ging direkt zur Hintertür, schloss auf und verschwand in die Küche, und das war alles.
Am nächsten Morgen beim Frühstück war er gereizt, leerte hastig den Kaffee und brach zeitig zur Arbeit auf. War er einfach nur müde oder dachte er über die möglichen Folgen seines Dunkelmond-Abenteuers nach? War er enttäuscht, weil ihr Plan nicht aufgegangen oder, schlimmer noch, weil etwas schiefgelaufen war? Ich habe das ganze Wochenende darüber nachgegrübelt und bin immer noch zu keinem Ergebnis gekommen.
Lynne gibt mir noch einen Tritt, und als ich den Kopf hebe, merke ich, dass Mrs Poole mich anstarrt. Ich blinzele kurz, bekomme einen dritten Tritt und begreife, dass mir eine Frage gestellt worden ist.
»Ich weiß nicht?«, antworte ich fragend und zucke beinahe zusammen, weil ich befürchte, Mrs Poole könnte mich etwas gefragt haben wie: »Schüler, die während des Unterrichts nicht aufpassen, müssten eigentlich in den Karzer, findest du nicht auch?« Aber Mrs Poole seufzt nur und wendet sich an Jenny.
»Bist du krank?«, flüstert Lynne. »Tut deine Rippe weh?«
Ich schüttele den Kopf, zucke mit den Schultern. »Irgendwie schon. Ein bisschen. Habe schlecht geschlafen.«
»Soll ich mit dir zur Krankenschwester gehen?«, fragt Lynne.
Ich seufze wieder. »Nein. Ist sowieso gleich Pause.«
Ich versuche, mich während der letzten zehn Minuten zu konzentrieren, aber meine Gedanken schweifen wieder zu Paul und Onkel Ben ab. Ich weiß nur, dass Amy sauer auf Paul war, weil er so spät nach Hause gekommen war und sich dann unruhig im Bett gewälzt hatte. (Außerdem hatte er das Haus mit schmutzigen Schuhen betreten und sich so der schlimmsten aller Sünden schuldig gemacht.)
Der Tag zieht sich zäh dahin. Phee und Lynne hören schon vor dem Mittag auf, mich durch Tritte zur Aufmerksamkeit zu ermahnen, weil sie mich zu Recht als hoffnungslosen Fall einstufen. Ich rechne damit, nachmittags eine Ermahnung nach der anderen zu kassieren, aber die Lehrer setzen nur diesen sonderbar traurigen Blick auf und ignorieren meine Tagträumerei, und manche fragen, ob ich mich hinlegen möchte. Noch sonderbarer ist, dass meine Mitschüler mich wegen dieser Vorzugsbehandlung nicht triezen – niemand verliert ein Wort darüber, dass ich heute eigentlich fetten Ärger am Hals haben müsste. Stattdessen erzählen mir sechs Klassenkameraden, wie froh sie seien, dass es mir gut gehe und dass ich nicht wieder ins Krankenhaus müsse, oder etwas in der Art.
Als die Schule endlich zu Ende ist, bin ich so verwirrt darüber, dass mein Kopf schmerzt.
Phee spielt montags Tennis und kann deshalb nicht mit mir nach Hause radeln, also holt Amy mich an diesem Tag meist ab. Aber da Lynne heute zu ihrer Großmutter geht, die ganz in unserer Nähe wohnt, meinte Amy, ich solle mit ihr nach Hause gehen.
Wir haben die Schule gerade verlassen und biegen um die Ecke, da sagt Lynne zu mir: »Die Leute mögen dich. Hast du gemerkt?« Sie klingt, als würde sie ein unterbrochenes Gespräch wiederaufnehmen. »Du musst nicht immer das Schlimmste vermuten.«
»Tue ich doch gar nicht!«, wende ich ein, aber Lynne hakt sich bei mir unter und sagt: »Doch, das tust du, Evie. Kann sein, dass es unbewusst geschieht, aber du bildest dir immer ein, die Leute würden dich nicht mögen, sobald sie sich ein bisschen komisch verhalten. Du kommst nie darauf, dass sie vielleicht einfach nicht wissen, was sie sagen sollen.«
Ich würde gern fragen: »Wozu?«, halte aber den Mund.
Vor unserem Tor überrascht mich Lynne mit einer Umarmung. Sie drückt mich fest und streicht über meinen Hinterkopf, und bevor ich ihre Umarmung erwidern oder ihr hinterherrufen kann: »Bis morgen!«, ist sie schon auf und davon. Ich schaue ihr nach, als sie in die Straße einbiegt, in der ihre Großmutter wohnt, und wünsche mir wider besseres
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