Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Blick zu der stöhnenden Frau zuckt.
Amy gibt mir einen Kuss auf die Schläfe und holt die Dose mit den Tabletten aus der Handtasche. Sie öffnet die Dose und hat den Inhalt noch nicht ganz auf ihre Handfläche geschüttelt, da stopfe ich die hellblaue, längliche Kapsel schon in den Mund. Ich muss husten, weil ich sie trocken runterschlucke. Amy klopft mir auf den Rücken, genau dort, wo sie den Husten lindern kann, ohne meinen Rippen wehzutun. Nachdem ich die überzähligen Tabletten wieder in die Dose getan und sie die Dose wieder in ihre Tasche gesteckt hat, massiert sie weiter meine Schultern, ohne dass ich sie darum hätte bitten müssen.
»Widele, Wedele«, beginnt Amy, ihr warmer Atem in meinen Haaren.
»Hinterm … Städele«, japse ich.
»Hat der Bettelmann Hochzeit …«
»Pfeift ihm’s Läusele …«
Der Drache ist fest in meiner Hand, und ich versuche, mich in Gedanken ganz auf sein Bild zu konzentrieren, male die Verse des Gedichts darunter, damit keine unerwünschten Gedanken aus den Winkeln kriechen.
Die Vorhänge rascheln, und bevor ich mich’s versehe, öffne ich die Augen, aber es ist nur Zugluft.
»Tanzt ein Mäusele …«
Das Zimmer wirkt seltsam verzerrt, ohne dass ich wüsste, warum. Und am Rand meines Blickfelds regt sich etwas. Wie wehende Vorhänge oder Spinnennetze. Ich weiß, dass alles, was sich da regt, von Bildern bedeckt ist, wie das magische Tuch, das die Dame von Shalott gewebt hat.
»Tanzt ein Mäusele«, wiederholt Amy.
»Igele … schlägt die … Trommel.«
Amy küsst mich auf den Kopf.
Das Gedicht aufsagen gleicht dem Weben der Dame. Wenn ich jetzt aufhöre, wenn ich mir einen Blick auf das gestatte, was aus den Winkeln kriecht, wird sich der Fluch erfüllen: Das Netz wird sich ausbreiten und mich einfangen, mich in die Tiefe zu den Bildern ziehen, und mir wird bewusst, dass es sich um Bilder von Fiona, ihren Eltern und deren Haus handelt – von Wirklichkeiten, die nicht mehr wirklich sind. Inzwischen sind es nur noch Bruchstücke, im Hintergrund wabernde Gespenster, die Kälte in den Raum hauchen.
»Alle Tiere, die Wedele haben, sollen zur Hochzeit kommen.«
»Zur Hochzeit kommen«, wiederhole ich und kneife die Augen fest zu. »Zur Hochzeit kommen.«
»Widele, Wedele«, flüstert Amy in mein Haar, leise und sanft und geduldig. »Hinterm Städele.«
So geht es die ganze Zeit: Widele, Wedele. Schließlich wird es wärmer im Zimmer, und es beginnt zu schwanken, ganz sanft und hin und her, als wären wir auf See. In einem Boot auf hoher See.
Ich seufze und kann Amys warmen Atem im Ohr spüren, als auch sie seufzt.
Kälte, Furcht und Wut verdämmern langsam in meiner Brust. Sie schlagen ihre Klauen nicht mehr in Herz und Lunge. Sie winden sich nicht mehr fauchend in meiner Brust. Ruhe und Frieden halten Einzug.
Ich öffne die Augen, lasse mich sanft vom Zimmer wiegen. Da lauert nichts mehr in den Ecken. Sie sind trübe und wie vernebelt, alle Kanten abgemildert, und mein Blickfeld ist eingeengt. Ich gähne blinzelnd – meine Lider fallen träge zu, heben sich so zögernd, wie Lynne einem über den Rand gerollten Korbball nachtrabt. Rand? Heißt das bei Korbball so? Aus … Wenn er im Aus ist …
Ich muss noch einmal gähnen.
»Wie geht es deinen Rippen?«, fragt Amy.
Wieder ein Gähnen. »Gut. Is’ mir egal.«
Ich liebe die blauen Tabletten. Dr. Barstow hatte die Idee. Mein Hausarzt war nicht überzeugt, erlaubte mir aber, sie auszuprobieren, und sie wirken Wunder. Da sie nur für den Notfall gedacht sind, nehme ich sie selten. Nur, wenn es gar nicht anders geht. Wenn alles zur Seite wegrutscht, als wäre ich, obwohl ich noch wach bin, in einen Albtraum gestürzt, von einem schwarzen, fauchenden Kaninchen mit roten Augen und spitzen Zähnen und Krallen in ein Kaninchenloch gezerrt worden … Die blauen Tabletten drängen die Welt ein Stück zurück, ermöglichen es mir, für eine Weile jenseits der Realität zu schweben.
Ich weiß, dass meine Rippen wehtun, aber der Schmerz ist mir entrückt. Er stört mich nicht mehr.
Ich müsste jetzt eigentlich frierend am Rand des Spielfelds kauern, und Lynne und Phee müssten ausgeschimpft werden, weil sie den Puck ignorieren und mit mir plaudern. Ich müsste meine Aufmerksamkeit sowohl dem chaotischen Lacrosse-Spiel als auch meiner blöden Stiftrolle widmen. Ich müsste, weil ich so friere und zittere, noch mehr Probleme mit der dicken Nadel haben und das Nähen am Ende aufgeben, weil ich sie mir
Weitere Kostenlose Bücher