Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Küche. »Schluss mit dem Rauchmelder«, sagt Amy. »Aber warum kramst du immer wieder im Schrank?«
Ich zucke wie üblich mit den Schultern und setze den Tee auf, während Amy die Einkäufe einräumt. Sie hat die erste Tüte noch nicht halb geleert, da hält sie inne, schwenkt die Tomatenkonserve und sagt: »Es gefällt mir nicht, dass du oben auf der Treppe auf Leitern herumhampelst, Evie. Du bist immer noch nicht ganz gesund. Und warum tust du das nur, wenn wir nicht da sind? Ich könnte schwören, dass du jedes Mal, wenn wir in diesem Monat weg waren …«
»Schon gut, Amy«, sagt Paul. Er legt seine Hände auf ihre Schultern und küsst sie auf die Wange, während sie leise und frustriert seufzt. »Deine Botschaft ist bei Evie angekommen. Was auch immer sie vor unseren alten Augen verbergen will – wenn wir die Leiter gleich neben dem Schrank aufstellen und danach für zehn Minuten in den Garten gehen würden, würde die Leiter hinterher bestimmt wieder an ihrem Platz stehen. Und wenn Evie Rücksicht auf unsere Sorgen nimmt, versprechen wir …« – er grinst mich an, als er dieses Wort betont – »… nicht zu schnüffeln, denn jeder Mensch braucht seine Privatsphäre, und nun, da Evie seit einem Jahr offiziell ein Teenager ist, darf sie auch ihre Geheimnisse haben.«
Amy schaut sowohl beschämt als auch besorgt drein. »Evie weiß, dass ich nicht herumschnüffele, Paul. Das tue ich nicht, nein, bestimmt nicht«, protestiert sie, und er schließt sie fester in die Arme und lacht in ihr Haar. »Sie hat selbstverständlich ein Recht auf ihre Privatsphäre …«
»Und auf ihre Geheimnisse«, sagt Paul und küsst sie wieder auf die Wange.
»Ja, natürlich, aber nur, wenn …«
Paul lacht. »Ich wusste, dass ein ›aber‹ folgt«, sagt er.
»Ach, Paul, sei nicht blöd. Evie weiß, was ich meine – sie darf sehr wohl Geheimnisse haben, aber nur, wenn diese ungefährlich sind.«
»Denn in einem solchen Fall wärst du nicht so tolerant«, unterbricht Paul sie wieder.
Amys Verärgerung wächst, und sie haut auf seinen vor ihrer Brust liegenden Arm. »Das ist nicht zum Lachen, Paul. Wenn Evie sich verletzt, müssen wir das wissen …«
Beide verstummen, und ich begreife erst nach einer Minute, dass sie daran denken, wie lange ich ihnen die Sache mit den Rippen vorenthalten habe.
»Evie ist ein mutiges, kluges Mädchen«, sagt Paul. »Sie weiß, dass wir sie lieben und dass sie uns alles erzählen kann.«
»Ja, Liebling«, sagt Amy, und die Knöchel der Hand, mit der sie Pauls Arm hält, werden plötzlich weiß. Sie sieht mich an und fährt fort: » Natürlich ist uns klar, dass du uns nichts Wichtiges verschweigen würdest. Wir lassen dir deine Geheimnisse, und ich verspreche, dich nie mehr danach zu fragen.«
Wir stehen da und sehen uns an. Paul räuspert sich schließlich. »Na gut. Komm, Evie. Wir stellen die Leiter oben wieder auf, und danach trinken Amy und ich einen Tee im Garten, während du weitermachst.«
Ich folge Paul und kaue dabei auf einer Haarsträhne.
»Ist es richtig so?«, fragt er und prüft nach, ob die Leiter fest genug steht.
Ich nicke, doch er schaut zum Rauchmelder auf.
»Ich lasse jemanden kommen«, sagt er unvermittelt. »Damit diese Dinger an das Stromnetz angeschlossen werden. Wir müssen die dämlichen Batterien loswerden, bevor Amy uns in den Wahnsinn treibt. Vielleicht kann ich das am nächsten Samstag erledigen lassen, wenn Amy bei meinen Eltern ist. Als Überraschung.« Als er sich wieder mir zuwendet, sieht er, dass ich noch wilder auf der Haarsträhne kaue. »Tut mir leid, mein Liebes. Du weißt, dass Amy dir nicht zu nahe treten wollte …«
»Ja, ich weiß«, sage ich. »Ist sie auch nicht.«
»Evie … ich hatte gehofft …« Miss Winters verstummt. Wir haben gerade die Bücher weggepackt, und ich weiß, dass sie jetzt mit mir reden will, aber heute ist mir gar nicht danach. »Ich hatte gehofft, heute ein … heikles Thema anschneiden zu können. Da gerade alles so gut läuft … Tja, ich dachte, dass dies vielleicht ein guter Zeitpunkt wäre, also … Könntest du mir vielleicht erzählen, wann deine … wann Fiona begriffen hat … wann sie entschieden hat, dich wegzugeben?«
Ich schaue zum Fenster. Miss Winters wird diesen Wink mit dem Zaunpfahl ignorieren, vor allem nach ihrer Einleitung, aber ich betrachte trotzdem die Wolken. Meine Hand schließt sich in der Tasche um den Drachen. Der Knochen erwärmt sich in meinem Griff.
»Wir haben
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