Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Haare, fettig und wirr, standen entweder ab oder waren platt gedrückt.
»Ich muss sie weggeben«, keuchte Fiona, und ihr Blick zuckte über die Leute, die sich neugierig von ihren Schreibtischen erhoben hatten. »Ich kann nicht … kann nicht … ich darf nicht … Sie haben gesagt, ich kann nicht … Haben gesagt, ich darf nicht …«
Ich schaute reglos zu. Schließlich sank eine Frau neben mir auf ein Knie. »Magst du mitkommen, meine Kleine?«, fragte sie freundlich. »Wir holen dir etwas Leckeres zu trinken. Meine Kollegen werden währenddessen versuchen, deine Mutter zu beruhigen.«
Und dann ist es einfach vorbei, weg. Das Büro, die Schreibtische, Fiona – alles ist verschwunden. Nur ich bin noch da, in Amys Küche, mit Miss Winters und der Erinnerung daran, wie Fionas Stimme immer schriller und schriller wurde, so schrill, dass sogar ich nicht mehr verstehen konnte, was sie kreischte. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt noch Wörter waren.
»Sie stand mitten im Büro und begann zu kreischen«, erzähle ich Miss Winters. »Sie kreischte unaufhörlich. Ich denke also, dass sie gar nicht bewusst beschlossen hatte, mich wegzugeben. Ich glaube, sie war zu dem Zeitpunkt gar nicht mehr fähig, eine Entscheidung zu treffen.«
Das ist nicht gelogen. Ich bin sicher, Fionas Eltern trafen die Entscheidung. Und sie beschlossen auch, dass ich in meinem Zimmer eingesperrt bleiben sollte, bis alle Male verschwunden waren, denn so würde niemand ahnen, was passiert war. Das weiß ich hundertprozentig, obwohl ich in meinem Zimmer nicht hören konnte, wie diese Entschlüsse gefasst wurden. Ich musste gar nicht dabei sein, um zu wissen, wer dabei den Ton angegeben hatte. Denn Fiona hatte damals schon lange keine einzige Entscheidung mehr getroffen …
Kann sein, dass der Krebs und die Medikamente ihren Teil dazu beitrugen, aber ich schätze, dass sie in dem Moment verrückt wurde, als sie das Blut aufwischen musste. Immer, wenn sie mir etwas zu essen in das Zimmer brachte, in dem ich eingesperrt war, war sie hysterisch.
Ich frage mich nur, wie sie von ihren Eltern dazu gebracht werden konnte, mich abzugeben, beim Jugendamt oder bei welcher Behörde auch immer. Aber vielleicht hatten ihre Eltern zu dem Zeitpunkt genauso viel Angst vor mir wie Fiona – so viel Angst, dass sie nach einem Ausweg suchten. Sie wussten genau, dass man mich ganz sicher nicht wieder nach Hause schicken würde, nachdem man Fiona in dieser Verfassung erlebt hatte.
»Fiona wurde sofort ins Krankenhaus gebracht«, erzähle ich Miss Winters. »Ich weiß nicht mehr, wer mir das gesagt hat, aber ich weiß, dass es so war. War ja unübersehbar, dass sie total neben sich stand.«
»Aber es muss doch irgendeinen Auslöser gegeben haben? Hatte sie sich mit ihren Eltern gestritten? Vielleicht gab es einen Streit … wegen der Diagnose oder darüber, wie mit dir zu verfahren sei.«
Ich schüttele den Kopf.
»Vielleicht wusste deine Mutter, dass sie dich nicht bei ihnen lassen konnte, während sie im Krankenhaus lag. Vielleicht wollte sie für den Fall ihres Todes vorsorgen. Für deine … für Fionas Eltern wäre es schließlich viel … einfacher ohne Fiona gewesen. Sie hätten dich dann für sich allein gehabt.«
»Fiona hat mich nie vor ihnen beschützt. Sie hat sich kein einziges Mal gewehrt.«
Miss Winters verzieht die Lippen, betrübt, aber nicht mitleidig. »Warum hätten ihre Eltern dann zulassen sollen, dass sie dich wegbringt, Evie?«
Ich muss an die cremefarbenen Brokatvorhänge in meinem alten Zimmer denken, an die grellroten Blutspritzer auf den Falten des schweren Gewebes. Ich muss an das warme, auf dem kühlen Glas hinabrinnende Blut denken, dem Glas auf meinem Nachttisch, aus dem ich nachts immer trank.
Und ich spüre wieder, wie das Blut in meinen Handflächen zusammenläuft.
»Weißt du wirklich nicht mehr, wie es dazu kam, Evie? Hat sie dich eines Tages einfach so, ohne Absprache mit ihren Eltern, ins Auto gesetzt?«
Ich zucke mit den Schultern.
»Fionas Eltern haben nicht versucht, dich zurückzuholen. Warum nicht?«, hakt Miss Winters nach. »Es wäre ihnen ein Leichtes gewesen, denn es gab ja noch keine Adoptiveltern, und niemand dachte an Missbrauch.«
Ich zucke bei diesem Wort zusammen. »Sie haben vermutlich Fionas Krankheit und Irrsinn vorgeschützt und behauptet, es würde sie überfordern, sich auch noch um ihre achtjährige Enkelin kümmern zu müssen«, sage ich, um das furchtbare Wort zu
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