Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Denn als die Haustür aufgeht, hat Fiona mich schon in mein Zimmer gesperrt.
Sie hält mich darin gefangen, bis meine blauen Flecken und Abschürfungen verschwunden sind. Das fällt niemandem auf, weil Sommerferien sind.
Als Fiona schließlich meint, dass man nichts mehr sehen kann, weil alles gut abgeheilt ist, führt sie mich unten in den Flur. Nicht ins Bad – neben meinem Schlafzimmer der einzige Ort, in dem ich mich meinem Gefühl nach jahrelang aufgehalten habe –, sondern nach unten. Nach unten!
Ich nehme an, dass wir in die Küche gehen, aber Fiona geht direkt zur Haustür. Wir gehen nach draußen .
»Einsteigen«, zischt Fiona und kramt nach dem Autoschlüssel.
Und dann sind wir unterwegs, und es ist mir vollkommen gleichgültig, wohin wir fahren. Aber ich will auf keinen Fall zurück, selbst wenn ich dafür alles zurücklassen muss. Wenn wir doch nur immer weiterfahren würden …
Wir halten auf dem Parkplatz eines großen Bürogebäudes.
Bei dieser Erinnerung schließe ich die Augen, packe die Kante des Stuhls und konzentriere mich auf das Gefühl der Holzmaserung unter den Fingerspitzen, ringe darum, mich aufrecht zu halten. Bemühe mich, mir bewusst zu machen, wo ich bin.
Die Küche von Amy und Paul. Unsere Küche, und alle Lampen brennen, und auf dem Herd köchelt ein Topf mit Curry, dessen Dampf die Fenster beschlagen lässt. Und da ist Miss Winters, sie sitzt mir am Tisch geduldig gegenüber und wartet ab, wie viel ich erzählen mag.
»Sie ist ausgerastet«, erzähle ich Miss Winters achselzuckend und mit ruhiger Stimme, die besagt: Amy und Paul haben Ihnen das doch bestimmt schon erzählt. Müssen wir das wirklich noch einmal durchkauen? »Vielleicht waren es die Medikamente oder so, jedenfalls ist sie total ausgerastet. Sie ist mit mir zu diesem Bürokomplex gefahren. Zum Jugendamt, nehme ich an. Es ist ein Wunder, dass sie dorthin gelangt ist, ohne dass wir verunglückt sind. Die Leute wussten schon nach einem Blick auf sie, dass sie vollkommen durchgedreht war, und das war’s.«
Ich kann mich an die Blicke der Angestellten bei unserem Eintreten erinnern. Ich ging voran, und Fiona folgte, als wäre ihr meine Nähe so unerträglich, dass sie mich nicht einmal anfassen mochte, um mich in das Gebäude zu ziehen, als wollte sie so rasch wie möglich ohne mich verschwinden.
»Geh!«, keuchte Fiona. »Geh. Weitergehen. Ich sagte: ›Geh weiter.‹«
Ich erschauere, als ich ihren Atem auf meinem Haar spüre.
Ich bin in der Küche von Amy und Paul , sage ich zu mir selbst und richte meinen Blick auf das Familienfoto, das Amy auf die Kühlschranktür geklebt hat. Ich bin vierzehn. Und Fiona ist tot.
Die Erinnerung verblasst. Wird wieder zu einer Kurzgeschichte über die Vergangenheit.
»Na los! Weitergehen!«, keuchte Fiona.
Keuchte, wiederhole ich im Stillen und klammere mich an diese Zeitform – es ist die Vergangenheit.
Wir liefen vermutlich durch einen Empfangsbereich, und ich nehme an, dass Fiona sich nach dem Weg erkundigte; genau weiß ich das nicht mehr. Ich habe allerdings noch die Frau vor Augen, die neben der Tür des Großraumbüros stand – sie betrachtete voller Entsetzen Fionas fast irrsinnig funkelnde Augen.
Und da wird das Damals im Handumdrehen zum Heute , rauscht wie ein Sturzbach in die Gegenwart. Die Wände in der Küche bewegen sich aufeinander zu. Der Tisch wird zusammengedrückt, immer weiter zusammengedrückt. Es ist, als würde ich die Augen immer weiter schließen, bis die Welt sich so verdichtet hat, dass man nur noch das sieht, was man direkt vor sich hat. Rechts von mir, wo eigentlich der Herd sein müsste, steht ein Tisch, und genauso links von mir, wo die Geschirrspülmaschine sein müsste. Und alles ist wie verwischt und verschwommen, zeichnet sich so schwach vor dem Hintergrund der hellen Küche ab, dass es sich vielleicht nur um einen Lichteffekt handelt.
Ich muss mich einfach nur umdrehen und den links von mir stehenden Tisch betrachten – direkt anschauen –, und dann wird alles verschwinden, sage ich zu mir.
Doch ich drehe mich nicht um, weil ich ahne, dass auf dem linken Tisch ein gerahmtes Foto, auf dem rechten Tisch eine Topfpflanze steht.
Einfach umdrehen, dann verschwindet alles …
Und wenn nicht? , kommt das Echo zurück, denn ich kann den links von mir stehenden Tisch spüren . Ich spüre ihn.
Und dann steht Fiona da. Dort, wo eigentlich die Hintertür sein müsste.
Fiona trug die Hälfte ihrer Kleider verkehrt herum, ihre
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