Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Eine Person wie Fiona.
Und da weckt die Erinnerung auf einmal keine Wut mehr in mir. Sondern Neugier.
Ich schlendere nachdenklich an den Gräbern entlang, schaue nach, an welchen Stellen sich die bunten Flecken häufen, wo der Boden am stärksten zertrampelt ist.
»Alles klar, mein Liebes?«, ruft Paul.
Ich zucke zusammen. Als ich herumfahre, wird mir bewusst, dass ich mich weiter entfernt habe als geplant, und ich renne zu Paul zurück. »Entschuldigung«, sage ich. »Ich war ganz in Gedanken.«
Paul legt einen Arm um mich, ohne den Blick vom Grabstein seines Sohnes zu lösen. Ich schaue von Adams Grab zu dem von Tante Minnie, danach zu dem von Opa Peter und Oma Florrie.
Alle tragen dasselbe Todesdatum.
Vor sechs Jahren saßen sie alle gemeinsam im Auto, waren auf der Rückfahrt von einer großen Familienfeier in Pauls Elternhaus. Sie mussten mit zwei Autos fahren, und sie verteilten sich folgendermaßen: Opa Peter nahm Oma Florrie, Tante Minnie und Adam mit, und Amy und Paul fuhren mit Onkel Ben. Paul hat es mir erzählt. Onkel Ben saß am Steuer, und Paul sah den Unfall im Rückspiegel. Sie bogen an einer T-Kreuzung auf eine Brücke ab. Ein betrunkener Fahrer, der mit seinem dummen, angeberischen Allradjeep über sechzig km/h fuhr, obwohl nur dreißig erlaubt waren, übersah die rote Ampel und rammte Opa Peters Auto, das daraufhin das Brückengeländer durchbrach und in den Fluss stürzte. Der betrunkene Autofahrer stürzte hinterher. »Ein schrecklicher Anblick«, sagte Paul, der nur dieses eine Mal von dem Unfall erzählte. »Wenn er danach ans Ufer gekrochen wäre, hätte ich ihm den Schädel eingeschlagen.«
Paul und Onkel Ben sprangen ins Wasser, aber weil der betrunkene Fahrer mit voller Wucht hinten in Opa Peters Auto geknallt war, waren Oma Florrie und Adam, die auf dem Rücksitz gesessen hatten, sofort tot gewesen. Tante Minnie, erzählte Paul, sei am Ufer gestorben, Opa Peter im Krankenhaus. Zu dem betrunkenen Fahrer sagte Paul, die Polizei habe ihn nur noch tot aus dem Auto bergen können.
Ich glaube, dass er sofort tot war. Paul erzählte mir all dies bedrückt und schuldbewusst; Rachegelüste waren ihm nicht anzumerken. Sein Schuldgefühl kann also nicht daher rühren, dass er oder Onkel Ben dem Fahrer entweder etwas angetan oder dabei versagt hätten, ihm zu helfen. Nein, es rührt daher, dass Paul nicht genau weiß, wie er sich entschieden hätte. Was hätten er und Onkel Ben getan, wenn der Fahrer noch am Leben gewesen wäre? Hätten sie ihm geholfen oder ihn ertrinken lassen? Und wenn er schwer verletzt hinter dem Lenkrad eingeklemmt gewesen wäre, hätte sie dann alles getan, um ihm zu helfen?
Doch so weit kam es nicht, und deshalb hat Paul weder eine Gewissheit noch weiß er, wie er sich dazu stellen soll – zu dieser Mischung aus der Hoffnung, dass er und Onkel Ben dafür gesorgt hätten, dass der Fahrer sein Leben auch verlor, und der Angst, genau dies nicht fertigzubringen. Ich an seiner Stelle hätte ganz sicher kein Problem damit gehabt.
Ich habe diese vier Verstorbenen nie kennengelernt, aber ich liebe sie trotzdem. Sie sind der Grund dafür, dass ich von Amy und Paul adoptiert wurde. Amy behauptet, sie hätten schon immer über Adoption nachgedacht, weil es in ihrer Familie seit langem ein Problem damit gebe, schwanger zu werden. Aber ich halte das für eine Notlüge, denn was Adam betrifft, so haben sie ein solches Problem nie erwähnt. Ob es stimmt oder nicht, kann mir egal sein, denn Amy und Paul haben mich adoptiert, und nur das zählt.
Onkel Ben kommt zu uns und drückt erst Amys, dann Pauls Schulter. Amy betrachtet Adams Grab noch eine Weile, und dann wenden wir uns alle ab und kehren zum Parkplatz zurück. Wir schweigen sowohl auf dem Weg dorthin als auch auf der Heimfahrt. Ich schaue aus dem Fenster und denke an frühere Todestage.
Ich kam knapp zwei Jahre nach den Todesfällen zu Amy und Paul. Amy nennt sie immer den »Vorfall«. Ich auch, weil sie es tut. Als der dritte Todestag näher rückte, ich war damals fast ein Jahr bei Amy und Paul, baten sie mich, Platz zu nehmen, und sagten dann, sie wollten zum Friedhof; ob ich »mitmachen« wolle. Sie sagten nicht »mitkommen«, sondern »mitmachen«, und das hieß, dass ich zu ihnen gehörte. Sie wollten mich nicht nur als Ersatzkind, sondern als Teil der ganzen Familie – sogar als Bestandteil jenes Teils der Familie, den ich nicht mehr kennenlernen konnte.
Amy und Paul deuteten die Tränen falsch, die mir damals
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