Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
schon kurz darüber gesprochen, dass Fiona dich nicht so beschützt hat, wie es sich gehört hätte. Hat sie vielleicht versucht, dich zu beschützen, indem sie dich weggab?«
»Ja, vielleicht, wenn sie es gleich nach dem Tod meines Vaters getan hätte, bevor wir zu ihren Eltern gezogen sind. Aber so war es nicht.« Ich versuche, so nebensächlich zu klingen, als gäbe es dazu nichts weiter zu sagen.
»Oder war es das Wissen um ihre Krankheit, das ihr am Ende die Kraft gegeben hat, die richtige Entscheidung zu treffen?«
Ich frage mich erneut, wie viel Amy und Paul Miss Winters erzählt haben. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass sie so viel weiß. »Nein«, sage ich und klinge zum Glück sowohl gelassen als auch entschieden.
»Nun, vielleicht konnte sie ihre Eltern schließlich doch noch überreden, dass es für alle am besten wäre, dich wegzugeben – als diese begriffen, welche Schwierigkeiten der weitere Verlauf der … Krankheit mit sich bringen würde.«
Ich werfe Miss Winters einen starren Blick zu. » Sie waren es doch, die mir erzählt hat, dass Fionas Eltern ihr vermutlich das Gleiche angetan haben wie mir. Und da glauben Sie allen Ernstes, sie hätten mich weggegeben, um sich besser um Fiona kümmern zu können?«
Miss Winters seufzt tief. »Menschen sind sonderbar, Evie. Manchmal … manchmal verhalten sie sich vollkommen widersprüchlich – äußerst unlogisch. Manche Leute können einerseits liebevoll und andererseits erschreckend bösartig sein.«
Ich zucke mit den Schultern und betrachte den Teppich. Er ist außerordentlich hässlich. Das fand ich schon immer. Er ist am Rand mit formlosen Klecksen verziert, die mir stets ein Rätsel waren. Sollen sie Blätter darstellen? Kornähren? Sie haben Punkte in der Mitte, und das verwirrt mich. Ich lege den Kopf schief.
»Was ist deiner Meinung nach passiert, Evie? Warum haben sie sich am Ende so entschieden?«
Ich zucke mit einer Schulter.
»Na gut, das ist heikel. Fragen wir uns zunächst, warum sie sich zu dem Zeitpunkt dafür entschieden haben. Was war der Anlass für diese Entscheidung?«
Ich schaue in Miss Winters’ hübsche, braungrüne Augen, aber ich sehe plötzlich nicht mehr sie, sondern erblicke das Gesicht von Fionas Mutter, verzerrt vor Angst und Wut. Sie zerrt Fiona den Flur entlang zu meinem Zimmer, muss sie aus der Küche hergeschleift haben, wo sie sich immer versteckt. Fiona hält immer noch ein Geschirrhandtuch in der Hand. »Mach das sofort weg!«, kreischt sie. »Ich hab dir gesagt, du sollst das wegmachen!« Aber Fiona steht nur regungslos da und starrt mich an.
»Sofort wegmachen, habe ich gesagt!« Fionas Mutter brüllt, und sie schubst ihre Tochter, schubst sie immer wieder, aber Fiona ist schreckensstarr und bleischwer, und außerdem weiß sie, dass ihre Mutter mein Zimmer nicht betritt. Sich nicht dazu durchringen kann, die Schwelle zu überschreiten, obwohl sie genau weiß, was sich dahinter abspielt.
Fionas Mund steht offen. Sie schnappt nach Luft, als hätte man ihren Kopf unter Wasser gedrückt.
Ich erbebe, reiße den Kopf zur Seite, schließe die Augen. Immer auf die Leerstellen konzentrieren, sage ich mir fest entschlossen. Das Leben hat keine Leerstellen, Erinnerungen aber schon.
Und die Erinnerung an jenen Tag besteht fast nur aus Leerstellen.
Keine Ahnung, wie ich ins Bild passe, welche Rolle ich in der Szene unten auf der Treppe im Haus von Fionas Eltern gespielt habe, aber ich stand vermutlich auf der Schwelle meines alten Schlafzimmers.
Und ich weiß ebenso wenig, wo Fionas Vater sich zu jenem Zeitpunkt aufhielt. Oder wann er das Haus verlassen hatte. In Anbetracht des vielen Blutes nehme ich an, dass sie ins Krankenhaus gefahren sind.
Ich weiß noch, dass ich in der Küche zusah, wie Fiona den Abfall aus dem Mülleimer holte und mit genau bemessenen Bewegungen halbkreisförmig auf dem Fußboden anordnete, bis dieser von Zigarettenschachteln und Bananenschalen bedeckt war. Dann legte sie die blutigen Tücher behutsam ganz unten in den Eimer und bettete den Abfall darauf. Dabei murmelte sie vor sich hin, murmelte unablässig vor sich hin, aber ich bekam nur Wortfetzen mit.
Ich weiß nicht mehr, was danach geschah. Aber ich kann mich daran erinnern, dass die Haustür aufging. Ihre Eltern waren zurück. Im Flur wird gemurmelt, ich höre, wie jemand durch das Haus geht … Dann nichts mehr. Und es ist nicht so, dass ich mich an nichts erinnere. Nein, da gibt es nichts zu erinnern.
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