Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
behalte Miss Winters im Auge und bemerke daher, welches Gesicht sie zieht, als sie begreift, dass Onkel Ben in der Küche ist. Als sie sich zu mir umdreht, hat sie sich zwar zu einer gewissen Missbilligung aufgerafft, aber mir ist nicht entgangen, dass sie zuvor hoffnungsvoll und erfreut, ja sogar aufgeregt gewirkt hat. Auf jeden Fall weicht ihre aufgesetzte Missbilligung bald einer latenten Resignation. Als Onkel Ben das Wohnzimmer betritt, um Hallo zu sagen, dreht sie sich zu ihm um, und die Augen der beiden leuchten auf. Wie zum Zeichen dafür, dass sich zwei gefunden haben. Sie drehen natürlich nicht gleich durch wie Phee, wenn sie den Typen aus der Elften sieht, mit dem sie sonst was machen würde, wenn sie könnte, oder wie Lynne, wenn im Fernsehen ein Schauspieler auftaucht, den sie anhimmelt. Nein, Onkel Ben und Miss Winters wechseln keine heißen Blicke. Trotzdem springt ein Funke hin und her – nicht stürmisch, aber spürbar. Beide versuchen, eine möglichst normale, höfliche, mäßig interessierte Freundlichkeit an den Tag zu legen, und so kann ich ihre Gefühle nicht genau benennen, aber vielleicht ist das auch egal.
»Muss mal kurz auf die Toilette«, sage ich grinsend zu Miss Winters.
Ihre Miene verrät mir, dass sie glaubt, wieder zornig oder missbilligend dreinschauen zu müssen, aber sie wirkt hauptsächlich verhalten und vielleicht ein kleines bisschen verärgert, während sie mit dem Knoten ihres Bindegürtels spielt. Ich lächele so ermutigend wie möglich und ziehe etwas die Augenbrauen hoch, während ich summend durch den Flur zur Toilette gehe. Ich bleibe so lange vor dem Waschbecken stehen, wie ich es aushalte, und grinse mich im Spiegel an.
Ich hatte überlegt, Onkel Ben vor Miss Winters’ Ankunft ein paar ermutigende Worte zu sagen, aber das spare ich mir für später auf, wenn ich ihn aushorche. Notwendig ist das zwar nicht, denn ganz gleich, ob und wie es zwischen den beiden gefunkt hat – irgendetwas war da, und es war bestimmt kein Strohfeuer. Miss Winters wird sich wahrscheinlich etwas zieren, aber nur halbherzig. Denn dass sie weder missbilligend noch peinlich berührt dreinschauen konnte, sondern resigniert wirkte, spricht für sich. Außerdem kann Onkel Ben bei Bedarf ziemlich hartnäckig sein. Wenn ich ihm alles erkläre und ihm verdeutliche, wie sehr es mich freuen würde, wird die Sache ein gutes Ende nehmen. Das kann ich spüren.
Ich weiß, dass es eigentlich nicht so funktioniert … und ich bilde mir auch nicht ein, dass es Liebe auf den ersten Blick ist, aber zwischen den beiden hat es gefunkt. Da ist irgendetwas, und die Tatsache, dass dies für beide gilt, sagt mir, dass es ziemlich glatt über die Bühne gehen wird. Sobald ich Onkel Ben auf das richtige Gleis gesetzt habe, wird er die Sache durchziehen. Das weiß ich genau.
Ich zwinkere mir im Spiegel zu und kehre dann summend durch den Flur zurück. Onkel Ben lehnt am Küchentisch, nippt an einem Becher und sagt: »Evie hätte sicher nichts dagegen, wenn Sie noch fünf Minuten mit dem Unterricht warten. Dann kann ich Ihnen nämlich meine weltberühmten Schoko-Karamell-Kekse anbieten.« Miss Winters fummelt derweil mit einer Hand am Gürtel und mit der anderen am Armband.
Also sage ich: »Her damit! Jetzt kann ich mich sowieso nicht mehr konzentrieren.«
Und was sollte Miss Winters darauf erwidern?
Ich hatte den ganzen Tag diese Vorahnung. Schwer zu sagen, warum. Und ich war deshalb so zerstreut, dass ich von vier Lehrern gerügt wurde. Sonny Rawlins begann schließlich zu kichern, aber es war Fred, der ihn anfuhr, er solle still sein. Es war also ein richtig guter Tag, obwohl ich nachmittags so in Gedanken versunken war, dass Phee mich fragte, ob ich traurig wegen Fiona und ihrer Eltern sei oder irgendetwas auf dem Herzen hätte. Ich erwiderte, dass die Mittagspause nicht der richtige Moment – und die Garderobe nicht der passende Ort – für ein ernsthaftes Gespräch sei. Sie hatte es gut gemeint, ich weiß, und das beschäftigte mich dann auch noch.
Phee und ich hatten nach der Schule Reitunterricht, und das beruhigte mich ein wenig. Nach der Heimkehr duschte ich, und ich war froh, dass Amy und Paul bis zum Abendessen nicht merkten, dass mich etwas belastete.
Ich ging früh zu Bett, aber jetzt, zwei Stunden später, liege ich immer noch wach und höre meine Kassette zum zweiten Mal.
Schließlich springt der Drache vom Nachttisch auf meine Brust, lässt sich herrschaftlich darauf nieder und
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