Die Nacht im Stau (German Edition)
gesagt. Vielleicht ist das mit dem Sprit ja gar nicht wahr, geht es ihr durch den Kopf. Vielleicht sucht der Typ ja nur etwas Abwechslung um die Zeit totzuschlagen?
„ Wie ist das eigentlich passiert, dass das Benzin in Ihrem Auto so knapp geworden ist?“, hakt sie nach und schaut ihn von der Seite an. „Das sieht man doch an der Anzeige, oder nicht?“
Er antwortet nicht sofort und sie nutzt die Zeit, um ihn ein wenig zu studieren. Er ist Ende zwanzig, hat ein freundliches, offenes Gesicht, blaue Augen, soweit sie es erkennen kann, und jede Menge Lachfältchen. Auf dem Kopf trägt er eine Baskenmütze, was ihm ein exotisches Aussehen gibt. Vielleicht ist er ein Franzose? Aber in seiner Aussprache ist kein Hauch von einem Akzent zu hören.
„I ch habe schon gewusst, dass der Treibstoff knapp wird“, erwidert er nun ernst. „Aber ich glaubte, die dreißig Kilometer bis zur Tankstelle noch zu schaffen.“ Er zuckt die Schultern. „Hätte ich vermutlich auch geschafft, wenn die Heizung in der vergangenen Stunde nicht die letzten Tropfen verbraucht hätte.“
„ Frisst denn die Heizung so viel? Was meinen Sie: Wird mir das Benzin noch eine Weile halten?“
Sie deutet auf die Instrumententafel ihres Fahrzeugs. Die Füllhöhe des Tanks steht auf etwa der Hälfte.
„Ganz sicher“, versichert der Fremde lächelnd, von dem sie noch nicht einmal den Namen kennt. „So viel verbraucht die Heizung nun auch wieder nicht.“
Sonja weiß nicht, wie ihr zumute ist. Da sitzt nun dieser Unbekannte neben ihr im Auto. Gott weiß, wie lange er bleiben will, und sie hat absolut zwiespältige Gefühle, eine Mischung aus Unbehangen und Neugier. Unbehagen, weil durch seine Nähe eine irritierende Intimität entsteht, Neugier, weil er einen sehr sympathischen Eindruck macht.
„Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich mich vorstelle. Ich heiße Sven.“ Er reicht ihr die Hand, und Sonja bleibt nichts anderes übrig, als ihm die ihre entgegen zu strecken. Svens Hand ist mittlerweile warm, sie ist groß und sein Händedruck ist angenehm leicht. „Wenn es Sie stört, dass ich hier sitze, dann sagen Sie es bitte. Ich geh dann sofort in meine Eishöhle zurück.“ Er scheint ihre Unsicherheit zu spüren.
„Nein, ist schon in Ordnung.“ Sie zieht ihre Hand zurück und streicht sich eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr. Allmählich verliert sie die Furcht vor dem Fremden. „Ich heiße Sonja.“
„Freut mich.“
Wieder stockt die Unterhaltung.
Es ist ja nicht so, dass Sonja nichts einfällt, was sie fragen könnte: Wo fährst du hin? Wo wohnst du? Was machst du beruflich? Wie alt bist du? Aber das sind alles sehr persönliche Fragen, und sie findet es unmöglich, einem völlig Unbekannten so nahe zu treten.
Zum Glück beginnt Sven von sich aus zu sprechen. „Ich bin heute um sechzehn Uhr in Stuttgart losgefahren, damit ich auch ganz sicher um zwanzig Uhr in Baden-Baden bin. Hab jede Menge Zeitpuffer eingebaut, um sicher zu gehen, dass es klappt. Seit Monaten freue ich mich auf dieses Konzert! Und nun sitze ich hier im Stau! Es ist wirklich zum Verzweifeln!“
Er knüpft seine Jacke am Hals oben auf und nimmt seine Baskenmütze ab. Lange braune Haare fallen auf seine Stirn und umrahmen sein Gesicht. Sonja ist es inzwischen fast zu warm geworden. Nachdem der Mann neben ihr wohl auch einigermaßen aufgetaut ist, stellt sie das Gebläse um eine Stufe zurück.
„Was ist das für ein Konzert?“, fragt sie. „Was wird gespielt?“
„Mahlers 1 . Symphonie mit Roger Norrington. Ein absolutes Highlight!“
Svens Stimme ist tief, ein Bassstimme, jetzt wird sie ganz weich. „Kennst du die Musik von Gustav Mahler?“
Sonja verneint . Sie liebt klassische Musik, sie hat sich als Schülerin sogar Beethovens Eroica angeschafft, nachdem ihr Musiklehrer diese Symphonie im Unterricht behandelt hat. Aber Mahler? Das sagt ihr nichts.
„Bei vielen Leuten hört die Musik mit Beethoven auf, zur Not kommt noch Schumann, Chopin oder Wagner. Mahlers Musik gefällt nicht jedem, weil er einen eigenen charakteristischen Orchesterklang erschuf“, erklärt Sven und seine sanftmütigen blauen Augen schimmern, als er sie anblickt.
„ So, wie du sprichst, scheinst du dich gut mit Musik auszukennen.“
„Ich studiere Musik und Germanistik“, erwidert er. Etwas unsicher schiebt er nach: „Darf ich meine Jacke ablegen? Mir ist inzwischen richtig warm geworden.“
„Klar, leg sie na ch hinten. Soll ich das Gebläse abdrehen?“
„Das
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