Die Nacht im Stau (German Edition)
würden sie das miteinander packen. Es würde bestimmt alles gut werden.
Im darauf folgenden Frühjahr wartete Sonja eines Abends wie so oft in ihrem Auto vor Roberts Labor. Es war schon eine halbe Stunde über der vereinbarten Zeit, aber sie kannte das, er musste wohl wieder eine Arbeit fertig machen. Sie lauschte der Musik aus dem Autoradio, sah, wie ein Mitarbeiter nach dem anderen das Labor verließ und hoffte, Robert wäre auch endlich fertig.
S chließlich kam er zu ihr heraus gelaufen. Er trug noch seinen weißen Arbeitskittel und Sonja wurde sofort klar, dass es heute wohl länger dauern würde.
„ Tut mir leid, mein Schatz. Aber ich muss unbedingt noch eine Brücke fertig machen“, begrüßte er sie und gab ihr einen Kuss. „Die anderen sind schon alle gegangen. Du brauchst nicht im Auto zu warten. Komm doch ein bisschen zu mir rein, vielleicht interessiert dich ja was ich gerade mache.“
So ein Mist, dachte Sonj a. Warum hatte er nicht angerufen? Sie hätte zu Hause noch so viel zu tun gehabt! Aber, naja, sie kannte das, Robert hatte schon oft davon erzählt: In letzter Minute brach ein Stück vom fast fertigen Teil ab oder etwas passte partout nicht. Sie durfte ihm jetzt nicht böse sein. Es war ja nicht seine Schuld, dass er noch nicht Feierabend machen konnte.
Sonja stieg aus, schloss das Auto und folgte ihm ins Labor. Es war das erste Mal, dass sie die Räume betrat. Große, helle Räume, alles in weiß gehalten. Unmengen von Gebissen grinsten sie an, viele weiße Plastikschalen standen herum, in denen Zähne oder Brücken lagen.
Sie folgte Robert zu seinem Arbeitsplatz und sah ihm eine Weile zu. Er saß vor einem Bunsenbrenner, schaute durch eine große Lupe und lötete winzige Teilchen aneinander. Eine extrem diffizile Arbeit.
„Arbeitest du den ganzen Tag so angestrengt?“, fragte sie.
„Ja.“ Er stöhnte kaum hörbar. „Die Arbeit an sich wäre ja gar nicht so schlimm. Aber die Zahnärzte machen dauernd Druck. Ständig rufen sie an, ob dies oder jenes schon fertig ist.“ Er zog die halbfertige Brücke aus dem bläulichen Licht des Bunsenbrenners und schwenkte das Teil, das er mit einer Zange hielt, leicht hin und her, damit es schneller abkühlte. „Das ist auch der Grund, warum ich in letzter Zeit so oft Magenschmerzen habe und so furchtbar müde bin.“
Während Robert das Brückenglied auf ein rosarotes Gipsmodell drückte um zu kontrollieren, ob es passte, glitten Sonja s Augen erneut über den Raum. Hier drin sollte ein Mensch sein halbes Leben verbringen? Bei diesem Gestank, in dieser Hitze, die die vielen Bunsenbrenner und Brennöfen verursachten? In dieser sterilen Atmosphäre? In diesem Pulver, das entstand, wenn die Mitarbeiter Porzellan oder Gips von einem Objekt abschliffen, diesem giftigen Zeug, das sich in den Bronchien absetzte?
„Das ist kein Beruf für ein ganzes Leben“, erwiderte sie schließlich mit Entschiedenheit. „Kein Wunder, dass diese Arbeit dich krank macht.“
Robert reagierte nicht gleich. Er ließ das Gipsgebiss noch ein paar Mal aufeinander beißen, dann schien er mit seiner Arbeit zufri eden, denn er drehte das Gas des Bunsenbrenners ab und erhob sich.
„Tja, a ber was soll ich sonst machen?“
Sonja schwieg und ließ sich von ihm in die Arme nehmen. Einen Moment lang standen sie schweigend, dann löste sich R obert als erster.
„Komm, lass uns gehen.“ Er trat an seinen Spind und begann sich umzu ziehen. Gedankenverloren nahmen ihre Augen die Dinge in seinem Schrank wahr: eine Kaffeetasse, viele Zigarettenschachteln, Magentabletten, einige Packungen Kekse, eine Tafel Schokolade, eine Flasche Sprudel. Sein Mittagessen. Mein Gott, dachte sie, was für ein Leben!
In den darauf folgenden Tagen gab es kein anderes Thema: Welche alternative Zukunftsperspektive gab es für Robert? Sie wälzten Berufsberatungshefte, versuchten seine Stärken und Schwächen heraus zu finden, überlegten, wie das ganze finanziell zu bewältigen war und kamen schließlich auf die Idee, dass es gar nicht so schlecht wäre, wenn Robert die Beamtenlaufbahn einschlüge. Das wichtigste Argument dafür war, dass diese Ausbildung staatlich gefördert wurde, denn eine weitere Ausbildung hätte seine geschiedene Mutter niemals bezahlen können. Die Ausbildung zum Zollbeamten war zwar etwas völlig anderes als bisher, aber es war auf jeden Fall ein gesünderer und sicherer Job als Zahntechniker.
Sonja fand die Idee brillant. Vor allem war sie froh, dass Robert
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