Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Namen hörte. Er wusste, wer es war, ehe er sich umdrehte, glaubte es aber trotzdem erst, als er sie mit eigenen Augen sah. Sie stand ein kurzes Stück hinter ihm und lächelte ein wenig verlegen. »Hallo.«
»Hallo«, brachte er heraus.
»Ich habe gesehen, dass Sie noch spät gearbeitet haben, also habe ich gewartet, bis Sie rausgekommen sind«, sagte sie und beantwortete damit eine Frage, die er gar nicht hatte stellen wollen.
»Oh. Wann sind Sie denn zurückgekommen?«
»Gestern Abend. Vielen Dank, dass Sie meine Sachen zurückgebracht haben.«
»Gern geschehen.« Das Schweigen hing wie ein Nebel zwischen ihnen. Als Mark es schließlich nicht länger ertragen konnte, sagte er: »Sie werden ja wahrscheinlich wissen, dass ich Ihren …«
»Meinen Alten kennen gelernt haben?«, zitierte Ardeth mit einem Lächeln, das ein wenig belustigt, aber auch ein wenig verlegen war. »Ja. Dimitri hat es mir erzählt.« Sie sah einen Augenblick lang zu Boden. »Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass mein Leben ziemlich kompliziert ist.«
»Ja, das hatten Sie«, gab er zu. »Ich hatte nicht vor, es noch schlimmer zu machen. Falls ich das getan habe.«
»Ich weiß. Sie können ja nichts dafür. Hören Sie«, er hatte den Eindruck, als würde sie tief durchatmen, »können wir irgendwo hingehen und miteinander reden?«
Mark ertappte sich dabei, wie er verlegen die halbleere Straße hinunterblickte, als wäre dort die Antwort auf ihre Frage zu finden. Er fühlte sich immer noch zu ihr hingezogen, das war nicht zu leugnen, und dieser Teil seiner Person wollte Ja sagen. Aber der andere Teil, der sich an die Enttäuschung erinnerte und daran, wie verwirrt er gewesen war, als er den grauhaarigen Mann in ihrer Tür hatte stehen sehen, drängte ihn, kehrtzumachen und so schnell er konnte, wegzugehen. Er hatte schon genug Probleme in seinem Leben: Brauchte er wirklich noch mehr?
»Ich habe nicht vor, Sie in einen Streit zwischen Liebenden hineinzuziehen oder dergleichen«, versprach sie. Er sah sie wieder an. Sie hatte Ringe um die Augen, und ihr Haar sah so aus, als könnte es einen Schnitt vertragen … oder wenigstens Kamm und Bürste. Gar nicht so schwer, sie einfach stehenzulassen, dachte er vernünftig.
»Mein Mitbewohner hat heute die Wohnung in Beschlag genommen.«
»Bei mir ist es genauso.«
»Café?«
»Gibt es keinen Ort, wo wir etwas ungestörter wären?«
Am Ende saßen sie auf einer Bank am Fluss. Mark war froh, dass er eine warme Wolljacke unter seinem Anorak trug. Seine Handschuhe hatte er in die Taschen gestopft. Ardeth schien die Kälte wie gewöhnlich überhaupt nicht zur Kenntnis zu nehmen.
»Ich würde Ihnen gern erzählen, was ich erlebt habe, weshalb ich hier wegmusste. Sie werden Nachsicht mit mir haben müssen, wenn einiges davon keinen Sinn ergibt. Es gibt auch Dinge, die ich Ihnen nicht sagen kann. Aber ich denke, wir könnten Freunde sein.« Er sah, wie ihr Blick, der auf dem Wasser geruht hatte, zu ihm herüberhuschte. »Ich möchte, dass wir Freunde werden, und wenn … wenn je mehr daraus wird, dann haben Sie Anspruch darauf, dass Sie wenigstens etwas über mich wissen.«
Er nickte und hielt den Mund, behielt Fragen für sich, wie zum Beispiel, wie sie sich wohl vorstellte, dass sie mehr als Freunde wurden, ohne damit noch mehr Komplikationen zu erzeugen, als es nach ihrer eigenen Aussage bereits gab.
»Außerdem«, sie zuckte verlegen die Achseln, »brauche ich einfach jemanden, dem ich es erzählen kann. Ich glaube, ich muss einfach laut darüber nachdenken.«
»Dann denken Sie.« Sie lächelte ihm kurz zu und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder dem Fluss zu. Nach ein paar Augenblicken des Schweigens fragte er: »Ist etwas?«
»Nein. Ich weiß bloß plötzlich nicht mehr, wie ich anfangen soll«, erwiderte sie mit einem Nachsicht heischenden Lachen.
»Das ist schon okay. Ich verstehe mich ganz gut darauf, Fragen zu stellen. Das wissen Sie ja vielleicht noch. Wo sind Sie denn hingegangen?«
»Zurück nach Toronto.«
»Warum?«
»Ich wollte nach Hause. Aber als ich dort ankam, habe ich festgestellt, dass ich kein Zuhause mehr habe. Meine Schwester wohnt in meiner Eigentumswohnung. Mein altes Leben – zwei waren es eigentlich – gibt es nicht mehr. Ich habe versucht, dort wieder anzufangen, wo ich aufgehört hatte. Aber das hat nicht funktioniert. Ich müsste mir dazu etwas vorlügen, und ich bringe es nicht mehr fertig, mir einzureden, dass diese Lügen die Wahrheit sind.«
»Warum sind
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