Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Sie denn weggegangen?«
»Weil Dimitri und ich uns gestritten hatten.«
»Meinetwegen?«
»Nein, es ging um uns, um die Frage, wer wir sind und was wir voneinander erwarten. Und was wir tun müssen, um zu überleben.« Er wartete, ließ ihr Zeit, weiterzureden, und als sie stumm blieb, zwang er sich, nicht all die gefährlichen Fragen zu stellen, nach denen jedes ihrer Worte verlangte. Schließlich ließ er es bei einer ungefährlichen Frage bewenden.
»Warum sind Sie zurückgekommen?«
»Weil es hier jemanden gab, von dem ich dachte, dass er mir helfen könnte. Ich dachte, er hätte vielleicht all die Antworten, auf die wir nicht kamen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem betrübten, ein wenig selbstkritischen Lächeln. »Er hatte Antworten – aber es waren nicht die, die ich hören wollte. Keine geheime Formel, keine uralte orientalische Weisheit, keine Versprechungen. Bloß die alten, harten Wahrheiten: Dass es keine bequemen Antworten gibt. Dass jeder seinen eigenen Weg finden muss und dass am Ende alles stirbt. Trotzdem bin ich ein paar Dinge losgeworden. Nicht sehr edle Dinge, das gebe ich zu. An Dimitri konnte ich mich rächen.« Ihre Stimme wurde dabei leiser, aber die Bitterkeit dahinter und das Maß ihrer Selbstverachtung war so deutlich, als ob sie es hinausgebrüllt hätte.
»Was hat er Ihnen denn getan?«, fragte Mark vorsichtig.
»Das ist ja das Traurige daran. Gar nichts hat er mir getan. Ich habe es ihm angetan. Ich habe ihm die Schuld dafür gegeben, dass er nicht auf alles eine Antwort wusste. Ich habe ihm die Schuld dafür gegeben, dass er auf vernünftige Weise etwas getan hat, was ich in jener Nacht auf dem Gipfel des Tunnel Mountains beinahe auf höchst unvernünftige Weise getan hätte. Ich habe ihm die Schuld gegeben, weil sein Leben überhaupt nicht das war, was es nach der Legende hätte sein sollen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und kauerte sich zusammen, als ob sie plötzlich doch die Kälte verspürte. »Wissen Sie noch, wie Sie in jener Nacht sagten, dass man in den Bergen die Knochen der Welt, die Gebeine des Lebens sehen kann?« Er nickte, obwohl sie ihn eigentlich gar nichts gefragt hatte: »Ich kann jetzt das Gerippe meines Lebens sehen. Es ist ganz einfach. Wir brauchen dies oder wir sterben. Und wir müssen jenes tun, um sicher zu sein. Der Preis für unser Leben ist der Verlust dessen, was wir lieben, so oder so. Ich habe keine Probleme mit dem Gerippe. Aber wie es scheint, habe ich Probleme mit allem, was sich zwischen den Knochen befindet – mit all den Dingen, die die Augenblicke unserer Existenz ausmachen.« Sie verstummte wieder. Mark sah etwas an ihrer Wange blitzen, bis sie es mit einer Handbewegung wegwischte. »Ich glaube, Sie haben kein einziges Wort von dem, was ich jetzt gerade gesagt habe, verstanden, oder?«
»Nicht alles, aber einiges davon schon.«
»Es ist schwer zu glauben, aber vor acht Monaten war ich mit mir völlig im Reinen. Ich wusste, wie mein Leben verlaufen würde, und hatte für alles eine Antwort. Und wenn etwas nicht dazupasste, dann drängte ich es einfach in die dunkelste Ecke meines Bewusstseins zurück. Dann zerbrach die Welt in Stücke, und als ich sie wieder zusammensetzte, hatte sich das alles für immer verändert.«
»Das ist vielleicht auch gut so«, meinte Mark vorsichtig. Der Blick, den sie ihm zuwarf, war schnell, aber nicht ärgerlich. »Wenn man sich zu sicher ist, ist das gewöhnlich schlecht für einen.«
»Das hat meine Schwester auch immer gesagt … und sagt es noch.« Er sah zu, wie sie sich vorbeugte, gebannt, wie es schien, von irgendetwas, das sie im Fluss sah. »Ich frage mich, ob er sich sicher war. Vielleicht stellte jene Leere, die ich empfunden habe, Gewissheit dar. Oder vielleicht auch etwas, das darüber hinausging, das über alles hinausging.«
»Er?« Er spürte, wie ihm das Gespräch wieder entglitt.
»Der Mann, für den ich zurückgekommen bin. Der Mann, den ich sehen wollte. Er«, sie hielt einen Augenblick lang inne, als überlegte sie, ob sie ihren Satz zu Ende sprechen sollte. »Er hat sich heute Nacht selbst getötet.« Mark schluckte. Was gab es dazu zu sagen? Was erwartete sie? Leere Worte des Mitgefühls? Plattitüden des Bedauerns? Sie sah ihn über die Schulter hinweg an, und er bemerkte das schwache Aufblitzen ihres Lächelns. »Keine Sorge, Sie brauchen nichts zu sagen. Er war sehr alt und sehr müde. Er hat beschlossen, auf eine Art und Weise zu sterben, die ihm Trost
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