Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Einen Augenblick lang verweilte die kleine Gruppe am Rande der Lichtung, dann bewegte sich Akiko. Sie ging mit gemessenen Schritten auf die Mitte der freien Fläche am Rande des Abhangs zu. Dort stellte sie ihre Tasche ab und begann diese auszupacken. Eine große weiße Matte kam zum Vorschein und wurde auf dem Boden ausgerollt. Dann folgte eine kleine Lackdose, die daneben gestellt wurde. Dann faltete sie die Tasche zusammen und legte sie hinter sich und verbeugte sich vor Fujiwara, der in der Nähe stehen geblieben war. Er erwiderte die Verbeugung und kniete in der Mitte der Matte nieder.
Neugierig und unsicher musste Ardeth unwillkürlich zu Rossokow hinübersehen. Er erwiderte ihren Blick einen Augenblick lang ausdruckslos und hob dann in Andeutung eines Achselzuckens die rechte Schulter. Als sie den Blick wieder von ihm abwandte, wurde ihr bewusst, dass Yamagata und seine Männer sich versammelt hatten und jetzt vor ihrem Oyabun niederknieten. Yamagata saß alleine, die anderen Männer paarweise hinter ihm. Was auch immer dieses merkwürdige Ritual zu bedeuten hatte, sie wusste, dass dieses formelle Verhalten von ihnen erwartet wurde, wenn sie auch aus den unsicheren Blicken, die zwischen den Männern hin und her flogen, argwöhnte, dass sie ebenfalls nicht wussten, was ihnen bevorstand.
»Kommt zu mir, meine Freunde, mein Bruder, meine Schwester«, rief Fujiwara ihnen zu. Ardeth schien es unnatürlich, sich niederzuknien, und so stellte sie sich ein Stück links hinter den letzten Yakuza und registrierte seltsam amüsiert, dass Rossokow eine ähnliche Position auf der rechten Seite einnahm. Ein Versuch, das Gleichgewicht zu wahren, dachte sie. Einen endlosen Augenblick lang herrschte Schweigen, während Fujiwara bedächtig die beiden Schwerter aus seiner Schärpe zog und sie vor sich hinlegte, zwei halbmondförmige, ebenholzfarbene Schnitte auf dem Weiß der Matte.
»Ich weiß, Sie müssen sich jetzt über das hier wundern«, sagte er schließlich und blickte auf. »Aber bitte, lassen Sie einen alten Mann gewähren, dem es seit langer Zeit Freude bereitet hat, seine Wirklichkeit als Kunst zu gestalten. Ursprünglich hatte ich daran gedacht, diese Sache ganz für mich alleine in meinem eigenen Heimatland zu vollziehen. Aber selbst meine Pläne verlaufen manchmal nicht glatt, und ich weiß, dass dies der Augenblick ist, an dem es geschehen muss. Mein Herz hat gelernt, was mein Verstand stets wusste – dass ich nicht der Einzige meiner Art bin. Ich habe der Wahrheit ins Gesicht gesehen: Dass meine Existenz, ja selbst meine Liebe, großen Schmerz bereitet hat, obwohl das nie meine Absicht war. Ich habe seit langem gewusst, dass dieser Augenblick eines Tages kommen musste. Und dennoch: Obwohl ich dies weiß, bin ich nicht jenseits von Furcht … und so erschaffe ich mir meine alte Welt im Ritual, in der Hoffnung, dass mir das Trost spenden wird.«
Ardeth hörte das scharfe Zischen des Atems von dem Yakuza vor ihr. Yamagatas Schultern spannten sich, als wartete er auf einen Schlag. Plötzlich wechselte Fujiwara ins Japanische, und da sie seinen Erklärungen jetzt nicht mehr folgen konnte, konnte sie nur in den Gesichtern und Handlungen der Yakuza nach Hinweisen suchen. Akiko kroch mit der Lackdose vor und klappte sie langsam auf. Fujiwara zog ein von Seidenbändern umwickeltes Bündel mit Papieren heraus und legte sie sich auf den Schoß, während er zu Yamagata sprach. Am Ende streckte er ihm das Bündel hin, und der Mann trat vor, um es entgegenzunehmen. Ardeth konnte sehen, dass Yamagatas Hände zitterten. Er stand einen Augenblick gebückt da und sagte etwas, was sie nicht hören konnte. Dann berührte Fujiwara leicht seinen gebeugten Kopf. Als Yamagata an seinen Platz zurückkehrte, sah sie sein Gesicht und erkannte, dass er weinte.
Weshalb weint er?, fragte sie sich. Fujiwara hat ihm gerade die Schlüssel zum Königreich übergeben, vermute ich. War es nicht das, was er sich gewünscht hat, das und die Unsterblichkeit? Er wusste, dass Fujiwara vorhatte, sich zur Ruhe zu setzen … und die schlimme Nachricht über seine Erbschaft hat er schon gestern Nacht erhalten, also wird er doch ganz sicher nicht deswegen weinen. Außerdem, dachte sie in bitterem Humor, weiß er, wo er das bekommen kann, wenn er es will.
»Dimitri«, sagte Fujiwara plötzlich und sah Rossokow an. Seine Kinnpartie wirkte verkrampft, seine Schultern zeichneten sich deutlich ab, als gebe er sich Mühe, seine eigenen Empfindungen
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