Die Nacht von Granada
Wahrheit.«
Lucias Worte, vor allem aber ihre ernste Miene schienen ihn überzeugt zu haben, denn er gab sie abrupt frei.
Sie rieb sich das schmerzende Gelenk.
»Früher warst du nie so grob«, sagte sie.
»Früher waren auch andere Zeiten.« Nun klang es fast, als tue es ihm leid.
»Soll ich dir jetzt helfen oder nicht?«, fragte Lucia leise.
»Wo steckt denn Djamila?«, kam prompt die Gegenfrage.
»Sie trauert mit Fatima und den anderen Frauen. Kann sein, dass es spät wird.«
»Dann haben sie ihr also verziehen, dass sie mit einem Christen lebt?«
Lucia musterte ihn schweigend. Wenn seine Lippen sich höhnisch verzerrten, gefielen sie ihr sehr viel weniger als sonst.
»Hat das zwischen deiner und meiner Familie jemals eine Rolle gespielt?«, sagte sie schließlich.
Mit einem Mal sichtlich verlegen, strich Rashid sich die Haare aus dem Gesicht und zuckte dabei schmerzerfüllt zusammen. Jetzt erinnerte er sie wieder an den temperamentvollen Jungen von nebenan, der oft Blessuren davongetragen hatte, weil er sein Temperament nur schwer zügeln konnte.
»Mach deinen Arm frei!«, verlangte sie resolut und fühlte sich plötzlich überlegen. »Wir sollten uns beeilen. Vater kann jeden Moment zurück sein.«
Überraschend gehorchte er ihr. Lucia verbarg ihr Erstaunen, wie muskulös er geworden war. War das nur die harte Arbeit auf der Alhambra, die aus dem schlaksigen Jungen einen durchtrainierten Mann gemacht hatte? Sie wickelte die Leinenbinde ab und war froh, dass ihre Hände einigermaßen ruhig waren. Dann griff sie nach einem Öllicht und untersuchte die Verletzung.
»Scheint ganz gut zu heilen«, sagte sie und säuberte die Wundränder mit Rosenwasser. »Nur in der Mitte hat es sich noch nicht vollständig geschlossen. Ich denke, du hast noch einmal Glück gehabt. Und jetzt halt die Lampe ruhig, damit ich dich neu verbinden kann!«
Die Abendglocken, die den Sonntag einläuteten, setzten ein, die dünnen, hellen von Sankt Nicolás als Erstes, gefolgt von den tieferen Stimmen anderer Glocken, bis es ein voll tönender Klangteppich geworden war, der jede Unterhaltung unmöglich machte. Auf Anordnung der Katholischen Majestäten wurden Jahr für Jahr immer noch mehr christliche Gotteshäuser errichtet, während eine Moschee nach der anderen abgerissen wurde und der Ruf des Muezzins* zu den täglichen Gebetszeiten für immer verstummt war.
»Glück?« Plötzlich war seine Stimme rau. »Weißt du, was du da sagst? Alles wollen sie uns rauben – unsere Stadt, unsere Berufe, sogar unseren Glauben. Doch unseren Stolz, den werden sie uns niemals nehmen!«
Plötzlich war sie sich ganz sicher, zu wissen, was geschehen war, und die Worte strömten geradezu auf ihre Zunge.
»Du warst dabei, als sie Malik getötet haben«, sagte Lucia, während sie die beiden Enden der Binde geschickt verknotete. Der Verband war flach. Unter den weiten Ärmeln einer Djellaba würde keiner ihn bemerken. »Genauso war es doch! Deshalb darf auch niemand deine Wunde sehen. Weil sie dich sonst holen und bestrafen würden.«
Unter seinem Bart war Rashid mit einem Mal aschfahl.
»Wenn du das auch nur einem einzigen Menschen erzählst, muss ich …«
»Ich bin schon lange kein Kind mehr, das Gefallen an Holzspielzeug findet«, fiel sie ihm ins Wort. »Falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte. Ich bin fast erwachsen und kann sehr wohl schweigen.«
Er musterte sie überrascht, als sähe er sie zum allerersten Mal. Dann drehte Rashid sich wortlos um und verschwand nach draußen.
Kaum war er fort, setzte ihr Zittern erneut ein.
Sie hatte seine glatte, warme Haut berührt! Und sie war seine Mitwisserin. Natürlich wäre Lucia jetzt am liebsten zu Nuri gelaufen, um der Freundin ihr übervolles Herz auszuschütten, aber die war ja noch immer Teil von Fatimas Trauergesellschaft. Doch selbst wenn Nuri oder wenigstens Saida zu Hause gewesen wären – das Geheimnis, das Lucia mit Rashid teilte, hatte eine unsichtbare Schranke errichtet.
Auch dem Vater konnte sie nichts davon erzählen. Und Tante Pilar, im Lauf ihrer Witwenschaft immer spröder und frömmelnder geworden, würde nur wieder mit einem Beispiel aus der Bibel ankommen, um zu beweisen, in welche Abgründe die Liebe ein unschuldiges junges Mädchen führen konnte.
Warum nur hatte sie keine Mutter mehr, in deren tröstende Arme sie hätte flüchten können?
Seit Langem hatte Lucia sich nicht mehr so allein gefühlt.
»Du hast dich umsonst hierher bemüht.« Kamal legte
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