Die Nacht von Granada
bloß nichts Wichtiges zu verpassen. Für kurze Zeit hörte sie noch erregte Wortfetzen zwischen Saida und Rashid hin und her fliegen, dann fiel die schwere Holztür ins Schloss.
»Ich muss sofort nach Hause!« Sie war aufgesprungen, warf der verdutzten Nuri eine Kusshand zu und stürmte nach unten.
Draußen angekommen, blendete sie das helle Licht. Für einen Augenblick unentschieden, schaute Lucia in alle Richtungen und seufzte vor Erleichterung, als sie Rashids schlanke Gestalt in einiger Entfernung entdeckte. Sie ging ihm nach, und das Glück schien mit ihr, denn die Gassen waren gut bevölkert, weil heute niemand arbeitete. Seit der Reconquista* galt in Granada allgemein die Sonntagsruhe. Notfalls könnte sie ja noch immer in einen Hauseingang springen, um einer Entdeckung zu entgehen.
Was aber, wenn Rashid sich zu plötzlich umdrehen würde? Ihre Größe, die rötlichen Locken und das blaue Kleid, das sie heute trug, würden sie auf der Stelle verraten. Lucia sehnte sich mehr denn je nach den maurischen Gewändern und dem Schleier der Freundin, die mehr Schutz geboten hätten.
Doch Rashid schien gar nicht daran zu denken, sich misstrauisch umzublicken. Er nahm den Weg hinauf zu San Nicolás, was sie verblüffte. Zwar kannte er Padre Manolo von Kindesbeinen an, aber was wollte ein Maure am heiligen Sonntag in einer christlichen Kirche?
Sie sah, wie er seine Schritte verlangsamte, als das helle Gebäude in Sicht kam. Schließlich blieb er ganz stehen und musterte das Gotteshaus nachdenklich, während sie sich eng an eine Mauer drückte. Nach einer Weile setzte er sich erneut in Bewegung, bog nach rechts ab und nahm nun Kurs auf den Darro. Inzwischen ging er immer schneller, und Lucia musste fast laufen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.
Dann war er plötzlich verschwunden.
Ärger über ihre Unachtsamkeit wollte sich schon in ihr breitmachen, da hörte sie aus dem offenen Fenster eines niedrigen Gebäudes seine unverkennbare Stimme. Rashid hatte offenbar die kleine Taverne betreten, die nur eine schmale Gasse vom Flussufer trennte, und begrüßte gerade einen Bekannten.
Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich einen möglichst günstigen Warteplatz zu suchen. Lucias Wahl fiel auf eine Pappel, die schräg gegenüber wuchs, und sie hoffte, ihr kräftiger Stamm würde sie genügend verdecken.
Eine ganze Weile verging – und nichts geschah.
Sie sah, wie die Männer ihren stark gesüßten Minztee tranken, dann wurden Lederbecher gezückt und das Würfeln begann, obwohl sie von Djamila doch wusste, dass der Prophet nicht nur den Genuss von Alkohol, sondern auch jede Form von Glücksspielen streng verboten hatte.
Die Sonne schien so warm, wie sie an einem Oktobernachmittag nur scheinen konnte, und machte Lucia langsam schläfrig. Irgendwann musste sie sogar kurz eingenickt sein. Das Gezeter zweier Buben, die um einen Kreisel stritten, weckte sie wieder auf.
In der Taverne schien inzwischen eine heftige Auseinandersetzung im Gange zu sein, doch Lucia war zu weit entfernt, um zu verstehen, worum es ging. Was sie allerdings sehen konnte, war, dass einige Männer sich um Rashid geschart hatten, der offenbar eine Rede hielt, denn er schnitt Grimassen und fuchtelte dabei mit seinen Armen. Den anderen schien zu gefallen, was er sagte, denn sie brachen in lautes, begeistertes Grölen aus.
Jetzt hielt die Neugierde sie nicht länger an ihrem Platz.
Lucia überquerte die Gasse, duckte sich, als sie die Frontfenster passierte, und schlich zum Hintereingang.
»Bist du jetzt ganz von Sinnen?«, hörte sie eine Frau in einfachem Arabisch keifen. »Man kann den Haschischrauch dieser Leute ja bis auf die Straße riechen!«
»Und wie bitte schön sollte ich sie daran hindern?«, schrie der Mann zurück. »In diesen Zeiten müssen wir froh um jeden Gast sein, der bei uns einkehrt.«
»Essen und trinken sollen sie bei uns und ordentlich dafür bezahlen, aber nicht diese aufrührerischen Reden schwingen!« Die Stimme der Frau überschlug sich beinahe. »Luceros Rotkappen gehen seit einigen Wochen verstärkt auf Patrouille. Wenn sie diese Möchtegern-Aufrührer bei uns entdecken, werden sie uns die Taverne über dem Kopf anzünden – so einfach ist das!«
Der Wirt packte seine Frau offenbar unsanft am Arm, denn sie schrie kurz auf. »Wenn du weiterhin so plärrst, sind sie schneller da, als wir bis drei zählen können. Du weißt, ich war immer ein friedliebender Mann, der jede Gewalt verabscheut – aber
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