Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
plötzlich wie ein Ziel, auf das hin sein Leben sich verengte, seit Jahren schon, vielleicht seit jenem Tag, an dem er beschlossen hatte, die Schule zu verlassen, um sich seinen Anteil am Ruhm des Reiches zu sichern. Georg und er. Er und Georg.
Wie viele Möglichkeiten hat man mit zwanzig, mit achtzehn, mit siebzehn? dachte er. Aber mit jeder Entscheidung, die man traf, so schien es ihm an diesem Abend, starb man ein Stück. Indem man eine Wahl traf, indem man etwas wurde, verwarf man zugleich unzählige andere Möglichkeiten. Welch ungeheure Verschwendung! Konnte eine einzelne Sache so wertvoll sein, dass man um ihretwillen auf alle anderen verzichtete, konnte ein Mensch so wichtig sein? Wie war das möglich? Konnte es eine Frau geben, die alle anderen aufwog, die man nicht heiratete? Das Kind, das man zeugte, der Beruf, dem man sich verschrieb? Wie leichtfertig nahm man das eine oder das andere, begnügte sich mit dem Nächstbesten, dem nahe Liegenden, ohne den Schmerz des Verlustes zu erahnen, der einem in späteren Jahren die Nächte schwer werden ließe.
Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er sein Leben vor sich, die fast hundert Jahre, die ihm vergönnt gewesen waren, die fast hundert Jahre, zu denen er verdammt gewesen war. Es war kein gleichmäßiges Band, das er vor sich sah, es gab Knoten, Verdickungen, in denen sich seine Vergangenheit ballte, zu pochen schien, als wolle sein Leben hinausplatzen aus den ihm zugewiesenen Orten und Zeiten, und es gab dünne Fäden entlang deren es sich zog, als würde es nur einer Winzigkeit bedürfen, um zu reißen, abzureißen für immer.
Eine Hand voll Zufälle hatte sein Leben entschieden. Merkwürdig, dachte er, wie einfach es aussieht, blickt man zurück. Ein Nein, das ein Ja hätte werden können, ein Wort, ein Satz, statt Schweigen. Kleinigkeiten, Zufälle. Eine Frau, die man küsst oder nicht küsst, eine Hand, die man zurückzieht, anstatt zuzupacken, festzuhalten. Er dachte an Georg, seinen besten Freund und Schulkameraden, an seinen Schwiegervater damals in der Dunkelheit jener Höhle, an seinen sterbenden Sohn. Er dachte an Laura, an das Land, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden war, trotz jener drohenden Dörfer oben auf dem Berg, und an seine alte Heimat, seine eigentliche. Merkwürdig, dachte er, wie wenig er verstand, wie wenig Plan und Ziel hinter all dem zu stecken schien, merkwürdig, dass er trotz des Alters, das er erreicht hatte, noch immer keinen tieferen Sinn in dem sah, was er getan hatte, was er getan hatte und was ihm widerfahren war.
1. Buch
1 . Kapitel
Anne, Liebste!
Wenig e Stunden ist es her, dass ich dich in meinen Armen gehalten habe, und doch, wie sehr fehlst du mir! Schon nach diesem ersten Tag, noch hier im Zuge sitzend, frage ich mich, ob es richtig war zu fahren. Wochen und Monate ohne dich, kaum vorstellbar! Ich halte mein Jackett im Arm wie einen lieben Menschen und rieche den Veilchenduft des Abschieds. Schon jetzt ängstige ich mich vor dem Zeitpunkt, da er verflogen sein wird. Fast meine ich, die Feuchte deiner heißen Tränen unter meiner Hand zu spüren. Wie tapfer du bist! Und wie verständnisvoll!
Du weißt, wie sehr ich mich auf Italien gefreut habe, was es für mich und meine Zukunft bedeuten kann. Die ganze Welt ist im Aufbruch, und ich kann nicht abseits stehen. Und was ist schon ein Sommer angesichts der vielen, die auf uns warten!?
Heute Mittag im Zug, in der Schweiz, du kannst dir nicht vorstellen, wie hoch die Berge sind und wie weiß! Überall auf den Gipfeln liegt noch Schnee. Was ist das für ein Gefühl! Alles riecht nach Abenteuer, auch wenn es nur der Rauch der Lokomotive ist. Und wie langsam sie sich zum Tunnel hinaufgequält hat! Man hätte ab- oder aufspringen können! Alles ist so wunderbar.
Dann endlich: Italien! Schon an der Grenze merkst du, dass alles anders ist. Die Häuser sind schäbiger und die Menschen ärmer, und doch, alles pulsiert vor Leben. Überall Fahnen, die Menschen stehen auf der Straße und disputieren, gestikulieren, sie winken dir zu und lachen. Ich habe mich noch nie so willkommen gefühlt.
Ich werde jeden Tag schreiben! ( Dir natürlich auch!) Es gibt so unendlich viel, was ich festhalten möchte. Jeder schlafende Hund auf der Piazza ist ein Epos wert, jede alte Frau, mit ihrem Wassereimer auf dem Kopf. Die Lebenden sind meine Helden und die Natur ist ihre Bühne.
Es tröstet mich ein wenig, dass auch du den Sommer an der See verbringen wirst. So werde ich dich
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