Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
nicht als Wartende denken müssen. Es wäre unerträglich, dich alleine an unseren geliebten Orten zu wissen. Grüß deine Eltern und deinen Bruder schön von mir.
Auf ewig, dein Max
Noch vor dem Abendessen, das es den heimischen Sitten gemäß nicht vor 20 Uhr geben sollte, trieb es ihn ans Meer. Er ging die Straße hinunter einfach der Junisonne entgegen, die noch hoch im Westen stand, und während er die wenigen Meter bis zur Verladestation zurücklegte, dachte er an die Ostsee zurück, an die Nordsee, an die Meere seiner Kindheit und Jugend, an einen Landschulheimaufenthalt in St. Peter Ording, und ihm schien, sein Herz klopfe genauso laut wie damals mit fünfzehn im ersten Kriegswinter, in jenem Kriegswinter, den es eigentlich nicht hätte geben sollen, so kurz sollte der Krieg werden, in den er seinen Bruder neidisch hatte ziehen lassen müssen. Hella mit ihren blonden Zöpfen fiel ihm ein. Die stumme Hella, die jeden Abend vor dem Haus Wiking auf ihn zu warten schien, eine streng, eine abweisend dreinblickende Hella, die er erst am letzten Abend anzusprechen gewagt hatte. Hella, was hätte aus uns werden können, dachte er zum wer weiß wie vielten Male und fragte sich, ob auch hier eine andere Hella, eine Maria oder Eva oder Julia auf ihn wartete.
Schon nach wenigen Schritten kam er ins Schwitzen, und er wünschte sich, er hätte etwas Leichteres angezogen, den hellen Leinenanzug beispielsweise, den er sich bei Schürmanns für diese Reise hatte schneidern lassen. Dazu kam der Staub, den er aufwirbelte, der im Abendwind über die Straße trieb und seine dunklen Schuhe mit einer feinen Schicht überzog.
Gleich neben der Straße war das Gleis einer Schmalspurbahn. Auch dieses führte wie die Straße selbst geradewegs auf den hölzernen Anlegesteg der Verladestation hinaus. Heute, am Sonntag, war niemand zu sehen, nur ein paar Fischer saßen auf dem hintersten Rand der Plattform und hielten ihre Angeln in das leise gegen die Stützpfeiler schlagende Wasser. Auch er ging zum Ende der Landungsbrücke, ging über die grauen Eichenbohlen, um dann zurückzublicken zum Strand.
So wenig der Steg selbst mit den Stegen der mondänen Bäder der Ostsee gemein hatte, so wenig ließ auch der Blick auf den Strand Urlaubstimmung aufkommen. Auch wenn es tatsächlich Sand gab, einen fast einhundert Meter breiten Streifen, überall standen Wagen, niedere Pritschenwagen zumeist mit eisenbeschlagenen Rädern, türmten sich Hölzer, verrotteten allerlei Gerätschaften in der salzigen Luft. Und auch die Kräne, die Flaschenzüge, die rostig in den Himmel ragten, ließen eher an einen kleinen Industriehafen denken als an den Strand von Portoclemente, einen der bekanntesten italienischen Badeorte.
Gleichgültig womit, es wäre an diesem Tag unmöglich gewesen, seine Abenteuerlust zu dämpfen. Zum ersten Mal seit Jahren ließ er sich von ihr davon treiben, und die Angst, die ihn vorher ein ums andere Mal zurückgeholt hatte, schien verschwunden. Nur Georg durchstreifte noch seine Träume, als habe er ein Recht darauf, lebenslang. Dass ihn der Anblick der einfachen Hafenanlage nicht ernüchterte, lag aber auch an das, was dort verladen wurde: Marmor!
Rechts und links der Straße, am Strand, auf den flachen Dünen dahinter bis hinauf zu den ersten Häusern des Dorfes, überall standen, mal in Reih und Glied, mal scheinbar willkürlich verteilt, die Blöcke. Quader, Würfel, dicke Platten, in große Holzkisten verpackt oder einfach auf Stämmen gebockt, tonnenschweres Gestein, das auf seinen Abtransport in die ganze Welt wartete.
Während das Wasser in das Holz zu seinen Füssen klatschte, starrte er auf diesen merkwürdigen Friedhof, und er stellte sich die Männer vor, wie sie schwitzend an den Tauen zogen, die Ochsen, viele Paare davon vor einem einzigen Quader. Das ständige Kommen und Gehen, die von Schreien und Rufen schwirrende Luft, das Knirschen der zum Zerreißen gespannten Seile und das dumpfe Stöhnen der Tiere. Doch an diesem Tage glich dieses steinerne Feld tatsächlich eher einem Friedhof. Anstatt der Namen und Daten, mit roter Farbe aufgetragene Zahlen und Buchstaben, auch jene unentwirrbare Hinweise auf Herkunft und Bestimmung.
Als er dann hindurchging, fast ehrfürchtig, hielt er nach dem bekanntesten Stein Ausschau, dem Statuario , dem weißesten, dem makellosesten Marmor, den es gab. Michelangelo hatte daraus seinen David geschlagen und unzählige andere ihre Statuen, Kreuze, Obelisken, und alles, was
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