Die Nacht zum Dreizehnten
sollte, daß er schon in den Spiegel geschaut hatte, aber dann beschloß er, es zu verschweigen. Man würde ihm sonst sicherlich schwere Vorwürfe machen, daß er die Heilung verzögere.
»Wir werden Sie nachher in den Verbandssaal bringen. Vorläufig bleiben Sie aber bitte liegen und stehen vor allem nicht auf! Sie haben noch eine Nadel im Brustkorb, vergessen Sie das nicht. Wenn Sie eine unbedachte Bewegung machen, dann kann die Spitze dieser Kanüle die Lunge wieder ritzen, und wir haben dasselbe Bild, das wir gestern schon gehabt haben. Bleiben Sie also vor allem ganz ruhig. Wenn wir die Nadel aus Ihrem Brustkorb herausgenommen haben, dann können Sie sich wieder freier bewegen.«
*
»Du scheinst wirklich deine Vergangenheit im Eiltempo nacherleben zu wollen.« Yvonne legte ihre Hand zärtlich auf Robert Bergmanns Knie. Die beiden saßen im Zug, der von Paris nach Marseille fuhr.
Er lächelte wehmütig. »Ist es ein Wunder? Je älter man wird, desto kostbarer werden die Tage – ach, was sage ich, Tage: Stunden, Minuten! Man kann das Ende des Lebens absehen und möchte die Zeit, die einem noch bleibt, so sinnvoll wie möglich ausnutzen. Nun habe ich mich einmal entschlossen, der Klinik den Rücken zu kehren …«
»Für ein paar Tage«, unterbrach ihn Yvonne lächelnd.
»Für immer könnte ich es auch nicht tun. Ich glaube, dann würde ich eingehen, wie eine Blume eingeht, wenn ihr die Sonne fehlt.«
»Der Pensionierungstod ist ja ein bekanntes Phänomen.«
»Vielleicht verstehst du jetzt meine Unruhe, wenn ich so viel wie möglich von meiner Vergangenheit sehen möchte …«
»Paris hat dich als Stadt nicht enttäuscht. Ich weiß nicht, wie es mit der Provence sein wird. Die Menschen, die du als junger Mann dort gesehen hast, sind alt geworden …«
»Vielleicht sogar schon tot! Vielleicht verzogen. Ich habe jahrelang nichts mehr von ihnen gehört. Doch reden wir von etwas anderem. Wir sollten nicht trüben Gedanken nachhängen.«
Professor Bergmann schaute auf die Uhr. »Jetzt sind wir bald in Marseille. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich darauf freue. Einmal wieder die Canebière entlang zu spazieren, zum alten Hafen zu gehen und eine echte Bouillabaisse zu essen.«
Yvonne betrachtete schmunzelnd ihren Mann, der um Jahre jünger geworden zu sein schien. Die Reise in die Vergangenheit wirkte wie ein Lebenselixier.
Der Expreßzug donnerte durch Bahnhöfe. Die karge Landschaft der Provence flog vorbei. Vom wolkenlosen Himmel schien die Sonne. In dem klimatisierten Abteil des TEE merkte man nichts von der Hitze, die draußen herrschen mußte.
»Damals sind wir nicht so bequem gefahren.« Bergmann deutete auf die Landschaft. »Ich fuhr als Student in einem Zug, der noch die dritte Klasse hatte. Es war qualvoll heiß in den Abteilen, die überfüllt waren. Den Luxus der ersten Klasse konnte ich mir nicht leisten, außerdem gab es zu jener Zeit noch keine klimatisierten Züge. Aber –«, er lächelte wehmütig, »wenn man jung ist, macht das alles nichts! Vielleicht hat es die Natur auch ganz gut eingerichtet, daß man im Alter etwas mehr Geld hat und sich manche Bequemlichkeit leisten kann, auf die man in der Jugend gut und gern verzichtet.«
»Dans quelques minutes nous arriverons à Marseille!« klang es aus dem Lautsprecher.
Yvonne Bergmann stand auf, holte die Koffer aus dem Netz und reichte ihrem Mann den Krückstock. »Also –«, sie half ihm beim Aufstehen, »stürzen wir uns in das Abenteuer Marseille!«
»Und morgen geht es dann weiter nach Cabasson und nach Saint Tropez, in die Stadt, in der –«, Bergmann wurde ernst, »die entscheidende Begegnung im Leben der Tochter meines Freundes stattgefunden hat.«
Der Zug verlangsamte sein Tempo. Es waren Hinterhäuser, wie sie immer in Vororten großer Städte zu finden sind, Fassaden, die alles andere als schön waren. Wäsche hing vor den Fenstern, Plastikwannen standen auf Baikonen. Wenn man das Bild der Armut hätte malen müssen, würde man hier die besten Motive finden.
DerZug hielt. Türen klappten. Auf dem Bahnhof herrschte geschäftiges Treiben. Yvonne nahm die beiden Koffer in die Hand und ging auf den Gang hinaus. »Hoffentlich finden wir einen Gepäckträger. Sie sind heute auch zu seiner Seltenheit geworden.«
*
Am Nachmittag trat der Pfleger Chiron in das Zimmer, in dem Dietmar Bursoni lag. »Was haben Sie vor?« Der Patient sah Chiron fragend an, als dieser die Räder am Bett herunterklappte und ihn zur Tür
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