Die Nacht zum Dreizehnten
Blinder, der es gelernt hatte, mit seinen Fingern zu sehen, am Gefühl festzustellen, wie sich sein Gesicht verändert hatte. Wenn er nur einen Spiegel zur Hand hätte! Aber woher sollte er ihn nehmen? Man pflegte nicht in die Schubladen von Krankenhausnachttischen Handspiegel zu legen.
Aber er mußte wissen, wie er aussah, koste es, was es wolle …
Er glitt mit den Beinen aus dem Bett, stellte die Füße auf den Boden und richtete langsam seinen Oberkörper auf. Die linke Brustseite schmerzte. Es war ein Gefühl, als ob sie mit einer Nadel durchbohrt würde. Immer wieder mußte er in seinen Bewegungen innehalten, weil die Schmerzen so stark wurden, daß er sich nicht weiter bewegen konnte.
Er brauchte sehr lange, bis er endlich auf der Bettkante saß. Wenn er sich jetzt noch ein wenig streckte, dann konnte er sich im Wandspiegel sehen. Er war zwar immer noch ziemlich weit entfernt, aber er würde doch feststellen können, ob die Entstellung wirklich so schlimm war, wie er befürchtete.
Ganz langsam richtete er seinen Körper auf, streckte seinen Hals …
Ihm war, als bekäme er einen Schlag gegen den Kopf. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß das, was ihm da aus dem Spiegel entgegensah, wirklich sein Gesicht war oder ob es sich um ein Gespenst oder einen Alptraum handelte. Diese unförmige Masse dort konnte nicht er sein! Das war unmöglich. Das war wie ein Wesen aus einer anderen Welt, ein häßlicher Gnom …
Immer wieder starrte er das Bild an und bewegte den Kopf nach rechts und nach links. Das Spiegelbild tat das gleiche, folgte getreu seinen Bewegungen! Da wußte er, daß er sich nicht täuschte, daß dieses Schreckgespenst, das ihn anschaute, er selbst war.
Er sackte in sich zusammen, legte sich ins Bett zurück und hob seine Beine hinein. Die Schmerzen in seiner Brust irritierten ihn nicht mehr. Er merkte sie gar nicht. Er mußte immerfort nur an dieses gräßliche Gesicht denken, das da vor ihm aufgetaucht war.
Eigentlich hatte er heute seine Identität aufklären wollen, aber vielleicht war es unter diesen Umständen besser, noch einige Tage lang die Rolle seines Reitburschen zu spielen. Wenn die Presseleute erfuhren, wie er aussah, wenn sie vielleicht Bilder von ihm schießen und veröffentlichen würden, dann wäre sein Ruf dahin. Er, der immer als einer der schönsten Männer der musikalischen Unterhaltungsszene gegolten hatte, war zu einem schreckenerregenden Gnom angeschwollen! Das durfte nicht sein!
Seine Gedanken arbeiteten präzise. Harald Streiber war noch eine Weile verreist. Er hatte gerade Urlaub. Es bestand keine Gefahr, daß von dieser Seite etwas durchsickerte. Irgendwann würde diese schreckliche Schwellung vorübergehen. Wenn er wieder wie er selbst aussah, konnte er sich immer noch zu erkennen geben. Solange mußte er sein Geheimnis hüten.
Es klopfte an die Tür. Oberarzt Bruckner, Dr. Heidmann und Schwester Angelika betraten das Krankenzimmer.
Dr. Bruckner stellte sich vor und fuhr dann fort: »Und das ist Dr. Heidmann, der Sie gestern operiert hat. Sie wissen ja, daß Sie von einem Pferd getreten wurden und schwere Verletzungen davongetragen haben. Wir werden später eine Kanüle, die gestern in Ihren Brustkorb eingeführt werden mußte, entfernen.«
»Mein Gesicht ist stark angeschwollen, nicht wahr?« Der Patient wunderte sich, daß er sprechen konnte. Die Schwellung schien etwas zurückgegangen zu sein. Zwar klang seine Stimme noch kloßig und war kaum verständlich, aber er konnte wenigstens Worte formulieren.
»Ja – Sie haben ein Hautemphysem, das bedeutet, daß aus der verletzten Lunge Luft in das Gewebe unter der Haut gedrungen ist und es kissenartig aufgebläht hat. Aber die Luft resorbiert sich in wenigen Tagen. Dann werden Sie wieder normal aussehen. Man hat schon einen Entlastungsschnitt«, Dr. Bruckner zeigte auf die Halspartie, »hier angelegt, damit die Luft schneller entweichen kann.«
»Dann werde ich bald wieder normal aussehen? Könnte ich wohl«, die Stimme Dietmar Bursonis zitterte ein wenig, »einen Spiegel haben? Ich möchte gern wissen, wie ich aussehe.«
»Ich rate Ihnen, noch nicht in den Spiegel zu blicken.« Dr. Bruckner legte ihm die Hand auf die Schulter. »Die Schwellung macht Ihr Gesicht noch reichlich unförmig. Sie würden nur erschrecken, wenn Sie sich sehen. Warten Sie ein paar Tage. Wenn Sie wieder normal aussehen, dann sollen Sie gern einen Spiegel haben.«
Dietmar Bursoni überlegte, ob er dem Oberarzt mitteilen
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