Die Nachzüglerin (German Edition)
wollte
Speckbrote essen, Wodka trinken, in seinen Armen
liegen und gedehnte, traurige Musik hören. Seit ich die
russischen Bücher las, hatte ich lustvolles Leiden
gelernt. Leider konnte ich Alexej nicht anrufen, das
Handy war im Bach gelandet und ich besaß weder eine
Telefonkarte noch Kleingeld. Außerdem musste man
vor den Telefonzellen lange warten.
Als ich nach Hause kam, fand ich ihn schlafend. Er
war wunderbar weich. Ich legte mich zu ihm. Alexej
rührte sich nicht.
"Was hast du?", fragte ich ihn. "Habe ich dich
gestört?"
Alexej antwortete nicht, sondern drehte sich auf die
Seite. Er zog sich die Decke bis unters Kinn. Ich
wollte nicht, dass er wieder einschlief.
"Sag was", bat ich ihn.
"Es ist gut, Franka", flüsterte er und umarmte mich.
Ich konnte nicht aufhören zu denken. Meine
Vermieterin
würde
bald
meine
Wohnungstür
aufbrechen. Ich sah Eva in den leeren Räumen stehen
und nach ihren Sachen suchen. Ich hatte mich nicht
von der Uni abgemeldet, außerdem würde ich bald
Geld brauchen. Alexej stand auf und bereitete uns eine
Tasse Pulverkaffee. Er nahm ein großes Messer vom
Küchentisch und schnitt dicke Wurstscheiben ab, die
er ohne Butter auf ein Stück Brot legte. Es schmeckte
nach Dorf. Ich aß die ruhigen Bewegungen seiner
Hände mit und dazu die Abendsonne. Dann setzte er
sich wieder über seine Bücher. Ich zog mir auch eines
aus dem Regal und fand ein Gedicht über eine Jagd
nach Wölfen. Die Wolfsmütter konnten ihre Jungen
nicht retten. Im Schnee waren große Blutflecke. Die
Wolfsmütter heulten, bis sie sich erbrechen mussten.
Das Läuten der Wohnungsklingel erschreckte mich,
ich hörte sie zum ersten Mal. Er hatte noch nie Besuch
bekommen, seit ich bei ihm war.
"Gehst du hin?", fragte Alexej, ohne sich umzudrehen.
"Ich lese", antwortete ich, während ich auf seinen
Rücken sah, den er mir zugewandt hatte. Den ganzen
Tag konnte er so sitzen. Als es zum zweiten Mal
klingelte, stand er auf. Ich vertiefte mich in mein Buch,
damit er mich nicht anschauen konnte. Dann hörte ich
sie beide aufschreien. Ich erkannte ihre Stimme sofort.
Als ich zur Tür kam, lagen sie sich in den Armen. Über
Annas Gesicht strömten Tränen. Sie strahlte mich an
und wollte auch mich in ihre Arme schließen. Ich
wollte sie nicht ansehen und stahl mich blitzschnell an
ihr vorbei. Im Gehen zog ich meinen Mantel an. Als
ich von Alexejs Wohnung schon weit entfernt war,
rannte ich immer noch. Wo sollte ich hingehen? Ich
lief in den Straßen herum. Der Osten ist dunkel, der
Westen ist hell, der Osten ist langsam, der Westen ist
schnell. Dauernd fielen mir Gedichte ein. Schließlich
hielt ich an einer Kneipe an, in der ich mit Alexej
manchmal etwas getrunken hatte. Er beugte sich
abends genauso krumm über seine Bücher wie
tagsüber. Ich setzte mich an den letzten Holztisch, der
noch frei war. Die Bedienung sah wie eine Prinzessin
aus. Sie hatte ihre dunklen Haare halb hochgesteckt
und trug ein langes Samtkleid, das abgewetzt genug
war, um nicht albern auszusehen.
"Kann ich dir was bringen?", strahlte sie mich an.
"Ja, einen Strick, bitte." Es sollte ein Witz sein, aber
ich merkte, dass meine Stimme zitterte.
Sie tat, als habe sie mich nicht verstanden. Sie war
wirklich vornehm.
"Habt ihr Wodka?"
"Wir haben sogar Whiskey im Sortiment."
Ich wollte sie bei mir am Tisch behalten.
"Ach, weißt du. Ich habe nicht die geringste Ahnung,
was ich trinken soll. Ich weiß nur, dass ich einen
raschen Rausch anstrebe. Ich würde mich gerne der
Empfehlung des Hauses anvertrauen."
Ich hoffte mich höfisch genug auszudrücken, um ihrer
würdig zu erscheinen. Sie setzte wieder ihr
liebenswürdiges Lächeln auf. "Wir mischen Ihnen
gerne eine blutige Maria, das scheint mir in ihrem Fall
das Beste zu sein." Sie drehte sich um und schwebte
zum Tresen. Sie brachte mir die Bloody Mary und
auch die weiteren, die ich bei ihr bestellte.
"Du kommst doch auch aus dem Westen?", fragte ich
sie, als sie zum dritten Mal kam.
"Alle fragen mich das. Nein, ich bin in Magdeburg
geboren." Ich wollte nicht so dumm wie "alle" sein.
"Wie kommst du in diese graue Stadt?"
"Ich habe einen Freund besucht. Aber jetzt ist eine
andere gekommen, und ich weiß nicht, wo ich heute
Nacht bleiben soll. Gibt es hier eine Jugendherberge,
oder kannst du mir eine Pension oder ein billiges Hotel
empfehlen?"
Sie überlegte einen Augenblick. "Komm doch mit zu
mir. Du kannst bei mir übernachten. Ich würde mich
freuen."
Wir liefen eine Ewigkeit durch die leere Stadt.
"Ich mag
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