Die Nachzüglerin (German Edition)
Geschirr abwusch.
"Warum hast du den Sekt offenstehen lassen? Er war
noch halb voll. Jetzt kann man ihn nicht mehr
trinken."
"Ich werde dich irgendwann sicher verstehen", gab ich
zurück. Lieber hätte ich ihn gefragt, warum er auf
einmal so spießig war.
"Was heißt das?", fragte er, während er den
Reißverschluss seiner Jacke hochzog.
"Es tut mir leid. Aber ich habe die Flasche
mitgebracht."
"Darum geht es doch gar nicht."
Er ging in die Vorlesung. Ich holte mir ein Stück Brot
und sah mich in der Wohnung um. Sie wirkte
unbenutzt. Ich hatte den Verdacht, dass Alexej sich
extra sparsam bewegte und möglichst wenig
Unordnung machte, weil er nicht aufräumen wollte.
Dann ging ich wieder ins Bett. Ich schlief gerne lange,
aber ich war nicht daran gewöhnt, im Bett
herumzuliegen. Daher bekam ich Lust, mich zu
bewegen. Ich strampelte, bis mir unter der Bettdecke
heiß wurde. Ich wollte für immer hier liegen bleiben.
Er sollte sich ab und zu an mir ankuscheln und mir
Wodka mit Appetithappen bringen. Lachs auf
Schwarzbrot mit einem Dillstängel drauf - oder Ei mit
Kaviar - oder Leberpastete mit Meerrettich. Dann
sollte er mich einfach nur ansehen, ich wäre sofort
bereit. Aber um mich loszuwerden, sollte er sich etwas
überlegen. Er müsste einen Freund holen, der könnte
ihm helfen, mich hinaus zu schleppen. Was würden die
Nachbarn denken? Ich würde regungslos auf der
Straße liegen bleiben. Ich fragte mich, was die Kinder
machen würden. Dann interessierte es mich nicht
mehr. Ein Kind war niemals da, ein anderes war und
ist da und ist doch nicht da. Wir verhüteten nie.
Konnte jemand verstehen, was den Kindern immer
passierte? Ich wiegte mich nicht in meinen Armen und
fütterte mich noch nicht und legte mich nicht an
meine Brust, deshalb wurden meine kleinen
Fingerchen immer dünner. Wenn mein Bauch erst
einmal dick wäre, würde die Sonne ganz lange darauf
scheinen. Ich wollte das. Auch meine Brüste sollten
dick werden und süße Kuhmilch sollte rauskommen
mit zehn Prozent Fettgehalt. Ich fürchtete, ohne
Bauch explodieren zu müssen. Ich wollte nichts mehr
sagen. Alles, was ich sagte, wurde falsch verstanden,
und alles, was ich nicht sagen wollte, das sagte ich
gleich ganz laut heraus. Leider hatte dieses Bett keine
Räder
und
fuhr
mich
nicht
durch
die
Sommerlandschaften an den blühenden Kolchosen
vorbei. "Lebe wild und lügnerisch" würde ich den
ehemaligen Landarbeitern zurufen. Da sie jetzt
arbeitslos waren, kämen sie sich vielleicht verhöhnt
vor, dabei hatten sie dafür das Recht, ihre Meinung zu
sagen. Ich war auch ein bisschen arbeitslos, das war
mir lieber als die Fabrik. "Sollen sie doch Japanisch
lernen", würde ich im Sinne Marie Antoinettes
vorschlagen.
Ich wollte doch nicht in diesem Bett liegen bleiben.
Die Bettwäsche war bestimmt das letzte Mal in
Nürnberg
gewaschen
worden
von
seiner
verständnisvollen Mutter. So stand ich auf und rasierte
mir mit Alexejs Rasierer die Beinhaare ab. Er würde
sich ärgern, wenn die Klinge stumpf war. Ich machte
das Bett nicht und ließ das Radio laufen. Auf der
Straße wurde mir etwas leichter und doch etwas
einsamer zumute.
Ich schaffte es selten herumzugehen, ohne nicht
mindestens einmal daran denken zu müssen, dass ich
in Ostdeutschland wohnte. An einer Hauswand las ich:
"Bullenstaat verrecke!" Auch hier im Osten war Jesus
gestorben, in einer Schlange der heutigen Telekom.
Heute wollte niemand mehr etwas davon wissen. Die
Werbung, die überall neu angebracht worden war,
störte mich mehr als zu Hause. Ich fühlte mich
erschlagen von den Bildnissen und Schriftzügen. Ich
fühlte mich davon beleidigt, dass ich mehrmals am Tag
das Wort Telly-D-1 lesen, hören und nun sogar selber
denken musste. Gebetsmühlen mahlten das Wort in
meinem Kopf. Mir war, als hätte man mich in einen
Kaninchenstall gesperrt und mit Reklamesprüchen
beschallt. "Na und, ich brauche nichts kaufen. Aber
herunterbeten muss ich es. Mir Gedanken machen."
Ich wusste natürlich, dass Telly-D-1 ein Handy war,
kein Händy, kein Hendi, kein Hähnchen, sondern ein
Händchen. Ich wusste auch, dass wir so nicht
weiterkommen. Ich wusste auch, dass mir demnächst
alle, womöglich auch noch Alexej, erzählen würden,
wie nützlich ein Funktelefon sei. Schon die Erwägung,
welches Handy am besten sei, stellte ich mir als
ausführliches Feierabendgespräch vor, das mich
gelähmt in mein Bierglas starren lassen würde. Mit
dem
Finger
würde
ich
Zeichen
auf
die
Feuchtigkeitsschicht malen, die sich an dem
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