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Die Nachzüglerin (German Edition)

Die Nachzüglerin (German Edition)

Titel: Die Nachzüglerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Sondermann
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er sofort wieder in die gleiche finstere Stimmung
zurück, mit der er mich empfangen hatte.
    Er schaltete das Radio ein. Der fröhlich wehmütige
Gesang von "You're in the Army Now" ertönte, und
ich sang leise mit, um Alexej zu ärgern, weil ich wusste,
dass er das Lied nicht mochte. Hektisch fing er an, mit
der rechten Hand die Fächer des Armaturenbretts zu
durchsuchen. Er fand aber keine Musikkassette,
sondern nur Stifte, Feuerzeuge und eine leere
Kassettenhülle, die er wütend wieder hinschmiss.
"Nichts kann man hier liegen lassen."
"Sei doch nicht so aggressiv", fuhr ich ihn an.
"Du kannst mir ruhig sagen, was mit dir los ist. Du
hast Sehnsucht nach Anna. Du hältst es ohne sie nicht
mehr aus. Du bist wütend, weil du nur mich abholen
konntest und nicht sie."
Wir wurden von einer Meldung unterbrochen. Es
waren eigentlich nur ein paar Worte, arglos dahin
gesprochen wie der Wetterbericht. Wir hörten, die
DDR gewähre all ihren Bürgern ab sofort
Reisefreiheit. Wir mussten an einer roten Ampel
stehen bleiben. Ich tobte auf dem Autositz und jubelte
wie auf einem Rockkonzert. Meine Haare wirbelte ich
derart herum, dass sie Alexej ins Gesicht klatschten. Es
war das Jahr der übermäßig erfüllten Erwartungen.
Der Stahlzaun um die Baustelle der WAA fiel plötzlich
und überraschend, nur noch übertroffen von der
Wucht
des
Mauerfalls
zwischen
Ostund
Westdeutschland. Die Beschlüsse schienen die
Beschließenden selbst zu überrollen und schockierten
am allermeisten die, die dafür gekämpft hatten, weil sie
keinen Sieg, sondern einen launisch hingeworfenen
Ereignisbrocken in den Händen hielten.
    Alexej verzog keine Miene.
"Warum freust du dich nicht? Kannst du dich etwa
nicht für andere freuen?" Ich schlug auf seinen
Oberarm ein, als säße seine Freude, sein verirrter
Götterfunken dort eingeklemmt.
Alexej sah mich mitleidig an: "Das ist das Ende der
DDR."
Ich verstand ihn immer noch nicht.
"Umso besser."
Alexej schüttelte den Kopf.
"Die DDR ist ein Spießerstaat. Ich möchte da auch
nicht leben müssen. Aber verstehst du das denn nicht?
Wenn der Sozialismus verloren hat, dann hat der
Kapitalismus gesiegt. Das ist logischerweise das Ende
der linken Politik auch bei uns."
"Selber schuld, wenn du ein anderes Scheißsystem
brauchst, um gegen dein eigenes auf die Straße zu
gehen. Denk doch an die Menschen."
"Die Menschen in El Salvador und Nicaragua stehen
mir näher. Ich bin schließlich kein Nationalist."
    Alexej fuhr mit zu mir nach Hause. Ich besorgte eine
Flasche Rotwein und Kartoffelchips. Ich machte Witze
und versuchte, Alexej zum Lachen zu bringen, aber er
versteinerte von Minute zu Minute.
"Warum habt ihr keinen Fernsehapparat?", meckerte
er mich an.
"Ich dachte, dich interessiert das alles nicht?"
"Dass ich nicht begeistert bin, heißt doch nicht, dass
ich nicht wissen will, was passiert."
Ich schickte ihn nach Hause. Dort konnte er sich
ansehen, wie sie vor dem Schöneberger Rathaus in
Berlin die Hymne sangen.
Nach Berlin zogen wir später auch, um gegen die
deutsche Einheit zu demonstrieren. Wir fuhren durch
das Land der vielen Schienen im leeren Zug durch die
Nacht. Den Menschen war es einerlei, sie fuhren lieber
mit ihren Autos neben den eisernen Wagen her. Das
Land war reich genug. Früher waren die Menschen in
den Viehwaggons und Güterzügen auf diesen Schienen
gefahren, so zusammengepfercht, dass sie sich nicht
hinsetzen konnten – und ohne Wasser. Es ist immer
noch dasselbe Land, und es sind dieselben Schienen.
Aber das störte vielleicht nur Alexej und mich. Das
Kind soll "Eisenbahn" lernen. Die Mutter spricht es
dem Kind vor. "Eisenbahn" ist dem Kind zu lang. Es
sagt "Zug". Als das Kind vom Dorf in die Stadt zieht,
lernt es, dass es keinen Platz mehr hat. Keinen Platz
zum Gehen, keinen Platz zum Schauen und keinen
Platz zum Spielen. Das Kind wird nicht nur einmal
beinah vom Auto überfahren. Wenn das Kind
woandershin fahren soll, muss es sich alleine in den
leeren Zug setzen. Diesmal fuhr ich mit Alexej, aber
ich hätte ebenso gut ohne ihn fahren können, weil er
schweigsam war. Schweigsamer als sonst, falls es das
gab. So erhielt ich Gelegenheit, mich zu erinnern. Ich
war erst einmal in Berlin gewesen, in meiner
indianischen Zeit: Fransenrock, Stirnband und zwei
dicke Zöpfe. Natürlich barfüßig. Ich musste schon
damals kein Kind mehr gewesen sein, der Himmel
blieb die meiste Zeit verhüllt, und der Schmerz war
schon nicht mehr neu. Der Schmerz in mir wurde nur
durch schmerzende Füße

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