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Die Nachzüglerin (German Edition)

Die Nachzüglerin (German Edition)

Titel: Die Nachzüglerin (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regine Sondermann
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übertönt. Wir konnten an
einer Stelle über die Mauer und über den Fluss nach
Ostberlin sehen. Dort waren die Autos lauter. Die
Züge fuhren immer auf derselben Strecke vorbei an
den Braunkohlebergwerken und den Schuhfabriken.
Oder waren es Heizkraftwerke? Die Schornsteine
hatten weißrot karierte Markierungen.
    Wir trafen uns im sonnenvergoldeten Tiergarten. Wir
waren dagegen, links oder so. Kleingeschrieben,
autonom, kurzgeschoren, langhaarig oder sehr
individuell ähnlich mit schweren Schuhen, hüpfend
sexy bis ordentlich provokant, schlampig oder gar
punkig. Die Ärmel der Strickpullover waren gerne zu
lang, so dass sie mit den Händen festgehalten werden
mussten. Das störte beim Drehen der richtigen
Zigarettenmarken. Als wir in die Leipziger Straße
kamen, standen dort die Menschen auf den Balkonen.
Sie staunten über die unordentlichen Gestalten, die sie
davor bewahren wollten, in die BRD eingemeindet zu
werden. Alexej verzog grimmig die Lippen, zog sich
einen Schal hoch und stampfte neben mir her. Am
Alexanderplatz legte er mir plötzlich den Arm über die
Schulter.
"Wir müssen abhauen. Es wird Ärger geben."
Die Polizisten hatten sich an einem der U-BahnAusgänge platziert.
"Sie warten, bis die meisten weggefahren sind, und
dann greifen sie zu."
Selten hatte ich Alexej ängstlich gesehen.
"Müssen wir dann nicht hier bleiben, um die anderen
nicht im Stich zu lassen?", fragte ich ihn.
"Ich habe keine Lust, hier verhaftet zu werden. Ich
kenne hier keinen. Lass uns gehen."
So brav, wie ich mit ihm hierhergefahren war, folgte
ich ihm nach Hause. Im Zug schliefen wir auf zwei
Sitzen ineinander geknotet, wärmten uns gegenseitig.
Die Fahrt vorbei an den Papierfabriken und den
Elektrizitätswerken dauerte ewig, aber nicht lange
genug.
KAPITEL 8
    Ich schlief allein. Alexej studierte inzwischen in
Magdeburg. Er sagte: "Die Anforderungen sind höher.
Ich kann dort mehr lernen als hier." Ich ging nur noch
selten in die Universität.
"Man muss bedenken, dass es den Osten schon immer
gegeben hat", sagte seine Tante Gunda zum Abschied.
"Wenn es den Osten schon immer gegeben hat, dann
gab es ihn vor dem Westen."
Alexej gab mir einen Kuss auf die Stirn. Ich hielt es
nicht aus, wenn er mir in die Augen sah. Ich beschloss,
mir an meinem dreißigsten Geburtstag das Leben zu
nehmen, wenn er bis dahin nicht mein Mann sein
wollte.
"An der Grenze, in Probstzella, werden die Loks
gewechselt, da musst du aussteigen. Im Bahnhofskiosk
verkaufen sie Bier und Bockwürste für nur eine Mark."
Vielleicht ahnte Alexej von meinem Schwur. Er
rümpfte die Nase.
"Es gibt keine Grenze mehr. Ich mag keine
Bockwürste." Heiraten wollte ich ihn nicht, aber er
sollte mir gehören, so wie einem ein Fernsehapparat
gehört, ansonsten würde ich mich selber nicht mehr
haben wollen.
    "Du musst mich bald besuchen." Er meinte es ernst,
doch ich lachte.
"Ich komme, sobald ich ein Visum habe." Alexej nahm
den Kopf zur Seite, obwohl es windstill war. Er hob
die Tasche auf. Sie war so schwer, dass er sich nicht
vollständig aufrichten konnte. Wir dachten beide an
Anna, die nicht kommen konnte, weil ich sie ebenso
stark wegwünschte, wie er sie herbeisehnte. Weil ich
dem Zug nicht hinterherstarren wollte, verließ ich den
Bahnhof, bevor er abfuhr.
    Ich könnte auch böse werden. Ich könnte nach
Sibirien fahren und Anna für ein paar Dollar von der
Mafia umlegen lassen. Keine Polizei der Welt würde
mich dafür belangen. Und Alexej, der sanftmütige
Revolutionär, würde fassungslos an ihrem Grab
stehen. Die Russen legen angeblich keinen Deckel auf
den Sarg. Er könnte sein Schneewittchen noch einmal
sehen, aufgebahrt im Blumenbett, bevor er zusammenbrechen würde. Ich würde ihn auffangen und trösten,
dass ihm die Ohren rauschten. Zu Hause bedauerte ich
es zum ersten Mal, dass wir keine Vorhänge hatten.
Der Frühling war ausgebrochen. Ich sehnte mich
danach, die Jahreszeit mit Rollläden außer Kraft zu
setzen. Die Vögel zwitscherten schrecklich schrill. Ich
legte eine Schallplatte der Dead Kennedys auf und
heulte mir die Augen aus. Ich legte meinen Kopf auf
den Tisch, machte den Nacken frei und wünschte, ein
Fallbeil würde darauf heruntersausen. Mit den Händen
berührte ich meine Sehnen am Hals. Ich erschrak, weil
sie hart wie Knochen waren, dabei wollte ich doch
seine Hände spüren. "Ich verlange Sicherheiten". Ich
wollte ihn anschauen, bis wir zu einem undefinierbaren
Gemisch verkamen, das keiner benötigte, das entsorgt
werden musste auf einer

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