Die Nadel.
mit ihrem Körper wie mit einer
Harfe gespielt und ein Messer in das Herz eines alten Schafhirten gestoßen hatte.
Die Hand brach ein Stück Glas ab, dann noch ein weiteres, so daß sich das Loch in der
Scheibe vergrößerte. Dann griff sie bis zum Ellbogen herein, tastete sich an der
Fensterbank entlang und suchte nach einem Verschluß, um ihn zu öffnen.
Lucy
bemühte sich, ganz leise zu sein, ließ die Flinte quälend langsam in ihre linke Hand
gleiten, zog die Axt mit der rechten aus dem Gürtel, hob sie hoch über den Kopf und hieb
mit aller Kraft auf Henrys Hand ein.
Er mußte es geahnt oder den Lufthauch gespürt oder den Schatten einer
gespenstischen Bewegung hinter dem Fenster gesehen haben, denn einen Sekundenbruchteil
bevor der Schlag landete, zuckte er jäh zurück.
Mit einem dumpfen Schlag fuhr die
Axt in das Holz der Fensterbank und blieb dort stecken. Eine Sekunde lang glaubte Lucy,
ihn verfehlt zu haben, dann hörte sie von draußen einen Schmerzensschrei und sah neben
dem Axtblatt zwei abgetrennte Finger, die wie Raupen auf dem lackierten Holz lagen.
Lucy hörte das Geräusch sich rasch entfernender Schritte.
Sie übergab
sich.
Erschöpfung überwältigte sie, gefolgt von einem Anfall von
Selbstmitleid. Hatte sie nicht endlich genug durchgemacht? Für Situationen wie diese gab
es Polizisten und Soldaten – niemand konnte von einer gewöhnlichen Hausfrau und Mutter
erwarten, daß sie einen Mörder für unbegrenzte Zeit in Schach hielt. Wer konnte es ihr
verübeln, wenn sie jetzt aufgab? Wer konnte ernsthaft behaupten, daß er sich besser und
ausdauernder geschlagen hätte, daß er auch nur eine Minute länger tapfer, entschlossen
geblieben und noch auf neue Tricks verfallen wäre?
Lucy war am Ende ihrer
Kräfte. Jetzt waren sie an der Reihe: die Welt da draußen, die Polizisten und
Soldaten oder wer auch immer am anderen Ende der Funkverbindung zuständig war. Sie selbst
hatte getan, was sie konnte.
Sie riß sich vom Anblick der bizarr anmutenden Finger
auf der Fensterbank los und stieg müde die Treppe hinauf. Unterwegs hob sie die zweite
Flinte auf und nahm beide Waffen mit sich ins Schlafzimmer.
Jo schlief zum Glück
immer noch. Er hatte sich während der ganzen Nacht kaum bewegt und überhaupt nichts von
dem grauenhaften Geschehen bemerkt, das sich um ihn herum abspielte. Lucy ahnte, daß er
nicht mehr so fest schlief. Etwas an seinem Gesichtsausdruck und der Art, wie er atmete,
verriet ihr, daß er bald aufwachen und sein Frühstück verlangen würde.
Jetzt
sehnte sie sich nach ihrem früheren einfachen Leben,danach, morgens
aufzustehen, Frühstück zu machen, Jo anzuziehen und langweilige, ungefährliche
Hausarbeiten zu verrichten, zum Beispiel zu waschen und zu putzen, Kräuter oder Gemüse
aus dem Garten zu holen und Tee oder Kaffee zu kochen. Es schien unglaublich, daß sie so
unzufrieden gewesen war mit Davids Lieblosigkeit, den langen eintönigen Abenden und der
endlosen öden Landschaft mit ihrem Gras, ihrer Heide und ihrem Regen.
Dieses Leben
war für immer vorbei.
Sie hatte sich ein Leben in der Stadt, Musik, Menschen und
geistige Herausforderungen gewünscht. Jetzt war ihr das Verlangen nach einem aufregenden
Leben vergangen. Mit einem Mal konnte sie nicht mehr nachvollziehen, daß sie überhaupt
jemals so etwas gewollt haben konnte. Vielmehr schien ihr nun nurmehr Friede das einzige
Gut zu sein, wonach der Mensch streben sollte.
Sie saß vor dem Funkgerät und
musterte die Schalter und Skalen. Das eine wollte sie noch tun, danach wollte sie
endgültig aufgeben. Sie unternahm eine letzte ungeheuere Anstrengung und zwang sich, noch
einige Augenblicke länger logisch zu denken. Es gab gar nicht so viele
Kombinationsmöglichkeiten von Schaltern und Skalen. Sie fand einen Knopf mit zwei
Einstellungen, drehte daran und tippte auf die Morsetaste. Kein Laut war zu hören. Das
bedeutete vielleicht, daß das Mikrophon jetzt angeschlossen war.
Lucy zog es zu
sich heran und sprach hinein. »Hallo, hallo, ist dort jemand? Hallo?«
Über einem
Schalter stand »Senden« und darunter »Empfang«. Er war auf »Senden« gestellt. Wenn
man ihr antworten sollte, mußte sie offensichtlich auf »Empfang« umschalten.
Sie
sagte: »Hallo, hört mich jemand?« und stellte den Schalter auf »Empfang«.
Nichts.
Dann: »Kommen, Storm Island, wir empfangen Sie klar und deutlich.«
Es war die Stimme
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