Die Nadel.
beherrscht hatte. Ob er irgendwo ein Buch hatte? Wenn sie nur jemandem mitteilen könnte, was hier geschah! Sie durchsuchte das Haus, verbrauchte dabei Dutzende von Streichhölzern und geriet jedesmal in Angst und Schrecken,wenn sie eines in der Nähe der unteren Fenster ansteckte. Aber sie fand nichts.
Also gut, vielleicht hatte er das Morsealphabet ja doch gekannt.
Andererseits, wozu hätte er es gebraucht? Er hatte dem Festland nur Meldung machen sollen, wenn sich feindliche Flugzeuge näherten. Es gab keinen Grund, weshalb diese Nachricht nicht – wie hatte David sich ausgedrückt? – au clair übermittelt werden sollte.
Sie ging zurück ins Schlafzimmer und sah sich das Gerät noch einmal genau an. Neben dem größten Gehäuse befand sich ein Mikrophon, das ihr beim ersten flüchtigen Hinsehen vorher nicht aufgefallen war.
Wenn sie mit jemandem sprechen konnte, konnte er auch mit ihr sprechen.
Der Klang einer anderen menschlichen Stimme – einer normalen, vernünftigen Stimme vom Festland – schien ihr plötzlich begehrenswerter als alles andere auf der Welt.
Lucy nahm das Mikrophon und begann die verschiedenen Schalter auszuprobieren.
Bob knurrte leise.
Sie legte das Mikrophon hin und streckte in der Dunkelheit die Hand nach dem Hund aus. »Was ist los, Bob?«
Er knurrte wieder. Sie konnte fühlen, daß seine Ohren steif aufgerichtet waren. Plötzlich hatte sie schreckliche Angst. Das Selbstbewußtsein, das sie gewonnen hatte, nachdem sie Henry mit der Flinte gegenübergetreten war und auf ihn geschossen hatte, nachdem sie gelernt hatte, neu zu laden, die Türen verbarrikadiert und die Fenster zugenagelt hatte, war beim ersten Knurren eines wachsamen Hundes wie weggeblasen.
»Nach unten«, flüsterte sie. »Leise.«
Sie hielt ihn am Halsband fest und ließ sich von ihm die Treppe hinabführen. In der Dunkelheit tastete sie nach dem Geländer – sie vergaß, daß sie es für ihre Barrikaden in Stücke gehackt hatte – und verlor fast die Balance. Sie gewann ihrGleichgewicht zurück und saugte an einem Splitter, den sie sich in den Finger getrieben hatte.
Der Hund blieb im Flur stehen, knurrte dann noch lauter und zerrte sie zur Küche. Sie hob ihn hoch und hielt ihm die Schnauze zu, um ihn ruhig zu halten. Dann schlich sie durch die Tür.
Lucy blickte zum Fenster hinüber, doch vor ihren Augen war nichts als samtene Schwärze.
Sie lauschte. Das Fenster knarrte, zuerst kaum hörbar, dann etwas lauter. Er versuchte, ins Haus zu kommen. Bob knurrte drohend, tief in der Kehle, aber er schien sie zu verstehen, als sie seine Schnauze jäh zudrückte.
Die Nacht wurde ruhiger. Der Sturm ließ unmerklich nach. Henry schien seine Bemühungen am Küchenfenster aufgegeben zu haben. Lucy schlich ins Wohnzimmer.
Wieder hörte sie das Knarren von altem Holz, auf das Druck ausgeübt wurde. Henry wirkte jetzt entschlossener. Dreimal erklang ein gedämpftes Dröhnen, als klopfe er mit dem Handballen gegen den Fensterrahmen.
Lucy setzte den Hund ab und wuchtete die Schrotflinte hoch. Es mochte nur ihre Phantasie sein, aber sie glaubte, das Fenster als graues Quadrat in der vollkommenen Dunkelheit auszumachen. Wenn es ihm gelang, das Fenster zu öffnen, würde sie sofort feuern.
Jetzt wurde das Dröhnen heftiger. Bob verlor die Beherrschung und bellte laut. Sie hörte von draußen her ein scharrendes Geräusch.
Dann ertönte die Stimme.
»Lucy?«
Sie biß sich auf die Lippe.
»Lucy?«
Es war die Stimme, mit der er im Bett gesprochen hatte: tief, einschmeichelnd und intim.
»Lucy, kannst du mich hören? Hab keine Angst. Ich will dir nichts tun. Antworte mir, bitte.«
Sie mußte gegen den Drang ankämpfen, sofort zweimal abzudrücken, nur
um diese entsetzlichen Laute verstummen zu lassen und die Erinnerungen zu zerstreuen, die
sich ihr unwillkürlich aufdrängten.
»Lucy, mein Liebling . . . « Sie glaubte,
ein unterdrücktes Schluchzen zu hören. »Lucy, er griff mich an – ich mußte ihn töten
. . . Ich habe für mein Land getötet, dafür solltest du mich nicht hassen.«
Was,
in aller Welt, hatte dies zu bedeuten . . . ? Es klang verrückt. War es möglich, daß er
wahnsinnig war und dies zwei Tage lang verbergen konnte? Er hatte vernünftiger gewirkt als
die meisten Menschen, und doch hatte er schon früher gemordet . . . es sei denn, man
verfolgte ihn zu Unrecht . . . Verdammt. Sie wurde weich. Genau das mußte er beabsichtigt
haben.
Sie hatte eine Idee.
»Lucy, sprich doch
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